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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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verborgen und still, während er die Wege
     hinabspähte.
    |117| Vielleicht stand sie hinter einem der Bäume, hinter der Ecke der Kirche und sah ihm zu. Sah zu, wie er den vereisten Weg zurückstakste,
     mit abgespreizten Armen, die sich vor und zurück bewegten, als würde er schwimmen. Sah zu und lächelte, ihre Zähne sehr weiß.
     Das Lächeln wurde breiter, als sein Fuß wegrutschte. Er schwankte, meinte das Eis bereits mit dem Hinterkopf zu spüren, er
     würde hart aufschlagen, sein Blut würde in die Eiskristalle sickern, sich mit Schmelzwasser mischen, es hellrot färben. Er
     fing sich, fand das Gleichgewicht wieder, der Rücken versteift zu einem Hohlkreuz, sein Herzschlag schnell und dumpf. Stand
     reglos da, sah hinab auf die Pfütze, das Eis war dunkel und nicht weiß. Fühlte, wie Schweiß aus den Poren unter seinen Armen
     trat und sich auf kalte Haut legte.
     
    Den Saft ließ er stehen. Nach sechsundzwanzig Schritten, er zählte sie leise, drehte er sich um, so schnell es der glattgetretene
     Schnee zuließ. Er prallte mit einem Mann zusammen, frontal zusammen, stieß mit dem Kinn gegen graue Mantelbrust, biss sich
     auf die Zunge. Der Mann musste dicht hinter ihm gegangen sein. Er schmeckte kein Blut, bewegte die Zunge, konnte jede einzelne
     Kerbe fühlen, die seine Zähne hinterlassen hatten. Der Mann sprach weiter in sein Mobiltelefon, sah ihn im Vorbeigehen an
     und schüttelte den Kopf.
    Sie hatte unzählige Möglichkeiten. Die Bäume, der hellgraue Stromkasten auf der anderen Straßenseite, hüfthoch und mit Plakatresten
     beklebt, sie konnte hinter ihm kauern oder sich hinter die parkenden Autos ducken. Die Straße schnurgerade, er war leicht
     zu observieren. |118| Sie kannte den Weg, er sollte abbiegen, in eine der Querstraßen, in einem Hauseingang haltmachen und warten.
    Unvermittelt beugte er sich vor, versuchte, durch das Seitenfenster des neben ihm parkenden Autos zu sehen, ob sie dort kauerte.
     Er war zu langsam, sie hatte gesehen, was er vorhatte, hatte sich tiefer geduckt, hockte unterhalb des Fensters. Er setzte
     sich wieder in Bewegung, lauschte, versuchte, den rauschenden Verkehr auszublenden, die Wortfetzen der Vorbeigehenden. Es
     knirschte. Er hörte ein Knirschen, es kam aus Richtung der Fahrzeuge am Seitenstreifen. Ein Knirschen, als würde vereister
     Schnee unter Schuhsohlen zertreten, ein Knirschen, das langsamer wurde, als er langsamer wurde. Sie lief neben ihm her. Verbarg
     sich hinter den Autos, lief neben ihm her, leicht in der Hocke, den Oberkörper weit hinabgebeugt, beobachtete ihn durch die
     Seitenfenster, die Heckscheiben. Atemlos, schwitzend, immer dicht bei ihm.
     
    »Frau Potulski«, er wandte sich der parkenden Autoreihe zu, »Frau Potulski«, sagte er, sagte es streng, wartete, ob sie auftauchen,
     ihren Oberkörper aufrichten würde. Sie rührte sich nicht, blieb hocken.
    »Ich sehe Sie«, sagte er. »Ich kann Sie sehen, Frau Potulski.« Er sagte es laut, sagte es auch in Richtung der Bäume, starrte
     die Straße hinab, den Saft konnte er noch ausmachen. Entschlossen ging er auf die Fahrban zu, auf eine schmale Lücke zwischen
     den Fahrzeugen, seine Sohlen zertraten knirschend harte Schneeklumpen, rutschten ab, als er über den kleinen Schneewall stieg, |119| seitwärts zwischen den Stoßstangen durchging, er musste schnell sein, sonst würde sie ausweichen, sich hinter einen Kofferraum
     hocken, beinahe wäre er gefallen, stützte sich mit der Hand auf der Motorhaube ab. Er blickte die Autoreihe entlang, direkt
     neben ihm fuhren Fahrzeuge. Nichts. Jana Potulski war nicht zu sehen.

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    |121| 11.
    Sie wartete nicht vor der Haustür, hatte sich nicht im Hauseingang untergestellt. Die Wohnungstür war geschlossen, der hellgraue
     Lack intakt, ohne die beiden breiten, parallelen Schrammen, die ein Stemmeisen hinterlassen hätte, ohne Bohrlöcher, rechts
     und links des Schlosses. Sie konnte einen Nachschlüssel angefertigt haben, der Hausschlüssel hing am Schlüsselbrett, sie hätte
     ihn nehmen können, zum Schlüsseldienst bringen, er versuchte sich zu erinnern, ob er sie lange genug aus den Augen gelassen
     hatte. Er schob den Schlüssel ins Schloss, drehte, zählte laut mit, drehte ein Mal, drehte zwei Mal, die Tür war doppelt verschlossen,
     wie immer.
    Er machte sich nicht die Mühe, das Licht im Flur anzuschalten. Er ging ins Wohnzimmer, die Tasche stand noch immer vor der
     Couch auf dem Boden, aus unerfindlichen Gründen war er

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