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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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rutschen von Ihrem Stuhl.«
    |170| Das Zimmer war plötzlich schief, die eine Seite senkte sich, die Tischplatte schräg, sie kam näher. Er bewegte sich auf seinen
     Teller zu, seinen reglosen Arm, er sackte nach rechts, griff mit der anderen Hand nach der Sitzfläche. Schloss die Finger
     um das Polster, sie gehorchten ihm anstandslos, er krallte die Nägel hinein. Das Zimmer war nach wie vor schief, doch es hörte
     auf zu sinken.
    Das Kribbeln hatte nachgelassen, er fühlte es noch immer im Arm, um den Mund herum, aber die kleinen Stiche waren weniger
     scharf. Auf einmal konnte er die Tischplatte fühlen, die Härte des Holzes unter seinem rechten Unterarm. Er drückte dagegen,
     sein Oberkörper richtete sich wieder auf. Er saß wieder gerade, hatte sich mit dem Unterarm hochgedrückt, fühlte ihn wieder.
     Er sah hinab, ängstlich, die Finger gehorchten. Zogen sich zusammen, seine Hand sah aus wie eine Klaue, er hob sie an, mühelos.
     Als wäre sie nicht eben noch ein Gegenstand, nicht anders als der Tisch oder sein Teller gewesen.
    Sie hatte das Kind vergiftet. Es war plötzlich krank geworden, hatte sie gesagt. Sie hatte das Kind vergiftet, und sie hatte
     ihn vergiftet. Die Substanz wirkte auf sein zentrales Nervensystem, Lähmungserscheinungen, Sprachstörungen, spastische Krämpfe,
     Worte, die er vor Jahren in der Ausbildung gelernt hatte, tauchten auf. Er musste es rausholen, aus seinem Körper herausholen,
     das Gift war in seinem Magen, seinen Armen, seiner Zunge. Es würde sich weiter ausbreiten, er musste sich einen Finger in
     den Hals stecken oder zwei. Wortlos ging er ins Bad, noch immer keine Krämpfe, die Tür |171| ließ er offen. Zog den Vorleger vor die Toilette, stützte sich auf dem geschlossenen Deckel ab, als er sich hinkniete. In
     den Ecken lagen helle Plastikklötzchen auf den Fliesen, sie hatte die Fallen für die Silberfische aufgestellt. Er klappte
     Deckel und Brille nach oben, sah in die Schüssel, das Wasser war klar. Er versuchte sich Jana Potulskis Gesäß vorzustellen,
     auf die Brille gepresst, versuchte sich vorzustellen, wie sie den Darm entleerte, wie Kot in das Wasser platschte, ihm wurde
     nicht übel. Er öffnete den Mund, hatte die Hände nicht gewaschen, seine Finger schmeckten bitter. Er schob sie tiefer hinein,
     seine Zunge war rau und feucht, steckte sie weiter hinein, bis er etwas Krauses fühlen konnte, seinen Rachen, weich und sehr
     verletzlich.
    »Alles gut«, fragte sie.
    Weg, sie sollte ihn in Ruhe lassen, er drehte sich nicht nach ihr um, machte eine Handbewegung, sie sollte weggehen.
    »Ist Ihnen übel?«
    Er würgte, Luft entwich seinem Magen, er rülpste laut, Speichel lief in seinen Mund, sehr flüssiger Speichel, lief über seine
     Lippen, tropfte in die Toilettenschüssel. Sein Magen presste sich zusammen, hob sich, er fühlte, wie der Inhalt die Speiseröhre
     hinaufgedrückt wurde, in die Mundhöhle, an den Zähnen vorbei, er schmeckte Schnitzel und Magensäure, öffnete den Mund weit.
     Ein Schwall Lebensmittelbrei klatschte in die Schüssel, lief das Porzellan hinab ins Wasser. Er fühlte etwas auf seinem Rücken,
     warm, sie hatte ihre Hand auf seinem Rücken, strich auf und ab, als wollte sie ihn trösten. Er stieß mit dem Ellbogen nach
     ihr, verfehlte sie weit.
    |172| »Sie können das gut«, Luft stieg seine Speiseröhre hinauf, er rülpste erneut, »schauspielern«, sagte er. Er ließ sich auf
     die Fersen sinken, sah ihr ins Gesicht, sie starrte zu ihm herab, schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Er schüttelte
     den Kopf, »ich falle nicht darauf rein.« Seine Finger rochen säuerlich, Magensaft und Speisebrei klebten an ihnen. Frau Potulski
     beugte sich vor, zog an der Spülung, er wich vor der Toilette zurück. »Schlau«, sagte er, starrte in das strudelnde Wasser,
     »Beweis vernichtet.«
    »Was haben Sie?« Ihre Hände hielt sie ausgebreitet, ihr Oberkörper war zu ihm herabgebeugt.
    »Das wissen Sie genau.«
    »Nein«, sie schüttelte den Kopf.
    »Vergiftungssymptome.«
    Sie reagierte nicht. Sah ihn nur unverwandt an, als wüsste sie nicht, was sie sagen sollte, legte sich etwas zurecht.
    »Was haben Sie mit dem Essen gemacht?«
    Ihre Augen wanderten zur Toilette, sie drehte sich um, sah zum Esstisch, wieder zur Toilette und schließlich ihn an.
    »Sie sind verrückt. Dass Sie einen Arzt brauchen, so verrückt.«
    »Es hat gekribbelt. Mein Arm hat gekribbelt. Ich konnte die Hand nicht bewegen. Nicht sprechen, leugnen Sie

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