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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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nicht, dass ich
     nicht sprechen konnte. Ich rutsche vom Stuhl, haben Sie gesagt.«
    Sie antwortete nicht, sah auf die Fliesen, schien nachzudenken, arbeitete an einer Erklärung, zwischen ihren Augenbrauen zwei
     steile Falten.
    |173| »Der Mann meiner Chefin hatte einen Schlaganfall«, sagte sie langsam, »er hat vorher auch immer gesagt, es würde kribbeln.«
    Das also hatte Sie sich zurechtgelegt.
    »Was haben Sie mit dem Essen gemacht?«, wiederholte er, hockte noch immer auf den harten Fliesen, seine Knie taten weh.
    »Sie müssen zum Arzt«, sagte sie.
    Er richtete sich auf, schob sich an der Toilette hoch, es war zu spät, die Arztpraxen hatten lange geschlossen, er betastete
     nochmals die Oberlippe, sie kribbelte nicht mehr.
    »Oder ins Krankenhaus«, sagte sie.
    Er schüttelte den Kopf. Er würde seine Wohnung nicht verlassen, sie ihr überlassen, es konnte ein Trick sein, um ihn für längere
     Zeit loszuwerden. Sein Körper fühlte sich wieder normal an, er bewegte die Zunge auf und ab, rollte sie ein, streckte sie
     so weit heraus, wie er konnte, Frau Potulski runzelte die Stirn, die Zunge gehorchte ihm.
    Er würde morgen zum Arzt gehen, es war Jahre her, seit er das letzte Mal beim Arzt war, wegen des Ischias, er hoffte, die
     Praxis existierte noch.
    »Was haben Sie mit dem Essen gemacht?«
    »Nichts ist mit die Essen«, sie brüllte plötzlich los.
    »Dem Essen«, korrigierte er. Wortlos ging sie an ihm vorbei, aus dem Bad, ging zum Esstisch.
    »Nichts anfassen, alles liegen lassen«, er beeilte sich, hinter ihr herzukommen, die Beweismittel sichern, er musste die Beweismittel
     sichern.
    »Was haben Sie ins Fleisch getan?«
    |174| Sie stöhnte auf, setzte sich, schob ihren Teller beiseite, zog seinen zu sich herüber.
    »Nicht«, sagte er, streckte ebenfalls die Hand aus. Sie hob den Ellbogen, ihr Blick ließ ihn innehalten. Schwarz, ihre Augen
     waren schwarz, nichts Weißes mehr sichtbar, er blieb still neben dem Tisch stehen. Sie nahm sein Besteck, schnitt ein Stück
     Schnitzel ab, steckte es, ohne zu zögern, in den Mund, wandte ihm ihr Gesicht zu, kaute, sah ihn unentwegt an und kaute, schluckte,
     »lecker«, sagte sie. Schnitt den nächsten Bissen ab und aß ihn. Er sah zu, wie das Schnitzel immer kleiner wurde, sie kaute
     ruhig, sah ihn nicht mehr an, strich ein wenig Püree auf das Fleisch, ein paar Pilze, ehe sie die Gabel in den Mund schob.
     Still war es. Nur das Besteck auf dem Teller war zu hören, ihre Kaugeräusche, ihr Schlucken. Sie streckte die Hand nach ihrem
     Glas aus, seelenruhig, trank einen Schluck Wasser, ihre Arme bewegten sich mühelos, sie schien nichts zu fühlen, kein Kribbeln,
     nichts.
    »Dann war es eben nur auf der einen Hälfte des Fleisches«, sagte er.
    Es klirrte laut, als sie das Besteck auf den Teller warf.
    »Sie sind krank«, sagte sie.
    »Wo ist es?«
    »Was?«
    Er würde keine Antwort bekommen. Er ging ins Bad, holte ihren Kulturbeutel aus dem Regal, schraubte den Cremetiegel auf, der
     Inhalt, hellrosa, sah normal aus, roch süßlich nach Parfum. Er öffnete die Wimperntusche, zog die Bürste heraus, drehte die
     Flasche um, nichts, nicht einmal ein schwarzer Tropfen kam aus der |175| Öffnung. Er sah auf, sah in den Spiegel, blass sei er, hatte sie gesagt. Er streckte die Zunge heraus, streckte sie weit heraus,
     rollte die Spitze ein. Die Zunge weiß belegt, er bewegte sie hoch und runter, seine Zunge sah normal aus. Er strich mit den
     Fingern über seine Oberlippe, fühlte nur Stoppeln, kein Kribbeln, keinen Schmerz.

[ Menü ]
    |177| 17.
    Er nahm alle Sachen aus dem Schrank, die Pappschachtel mit Reis, mit Knödeln,
Halb und halb
, Nudelpackungen, Tütensuppen, Erbsen und Möhren in der Dose, Kartoffelsuppe, das alte Honigglas, in dem er Gummibänder sammelte,
     die Klarsicht- und die Alufolie, Butterbrotpapier, das Glas, in dem er die Drahtclips für die Brottüten aufbewahrte. Stellte
     alles auf die Arbeitsplatte, als sie voll war, auf den Tisch und die Sitzflächen der Stühle.
    »Ich räume das nicht auf.«
    Jana Potulski lehnte am Türrahmen, die Beine übereinandergeschlagen, die Arme verschränkt, und sah ihm zu. Unvermittelt lachte
     sie hell auf, schüttelte nur den Kopf, als er sich nach ihr umdrehte. Er fühlte, wie sich die Kauflächen seiner Backenzähne
     aufeinanderpressten. Zog den einzig freien Stuhl heran, stieg auf die Sitzfläche, schob die Gegenstände beiseite, ein verstaubtes
     Päckchen Zimtstangen fiel zu Boden, und

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