Silberflügel: Roman (German Edition)
Geschichten, ich weiß es nicht“, sagte Marina. „Aber die Ältesten haben mir erzählt, dass die Ringe einen Fluch tragen und dass ich nichts dagegen tun könne. Sie haben mir gesagt, dass ich … wie war das Wort … unrein sei, das ist es. Ich sei von den Menschen gezeichnet und ich brächte der Kolonie nur Unglück. So haben sie mich vertrieben.“
„Nein!“ Schatten schnappte nach Luft. „Deine Mutter und dein Vater …“
„Sie konnten nicht … es gab nichts, was sie tun konnten.“ Marina seufzte. „Sie hatten auch Angst. Ich musste mich verabschieden. Zuerst versuchte ich ihnen in einiger Entfernung zu folgen, aber die Ältesten schickten ein paar große Männchen mich zu vertreiben, und schließlich habe ich mich verirrt.“
Schatten konnte nur entsetzt den Kopf schütteln. Die Vorstellung, dass seine eigene Mutter zuließ, wie er vertrieben wurde … Es war zu schmerzlich, um es zu ertragen.
„Es war wie ein schlimmer Traum“, sagte Marina. „In den ersten Tagen habe ich es im Schlaf vergessen. Dann bin ich aufgewacht, habe um mich geschaut und war ganz allein. Ein paar Mal traf ich auf andere Fledermäuse, aber sie warfen nur einen Blick auf diesen Ring und fort waren sie. Zu der Zeit war ich auf die Küste gestoßen und dachte, ich würde sowieso nicht mehr lange zu leben haben.
Ich glaube, ich muss verzweifelt gewesen sein, denn ich habe mir gedacht, ich sollte einfach auf den Ozean hinausfliegen und allem ein Ende bereiten. So bin ich losgeflogen und habe mir immer wieder gesagt, stürze dich ins Wasser, aber es hat so schrecklich ungemütlich ausgesehen. Daher habe ich gedacht, ich fliege noch ein bisschen weiter und tu’s dann, aber irgendwie konnte ich nie den Mut dazu fassen – so viel Wasser, ich habe doch gewusst, dass es eiskalt ist – und schließlich war ich so weit draußen, dass es keinen Weg mehr zurück gab. Dann hatte ich fürchterliche Angst. Zum Glück habe ich die Insel gesehen und es bis dahin geschafft, bevor meine Flügel nicht mehr konnten. So bin ich jetzt hier. Ich meine, es ist nicht schlimm hier. Es gibt genug zu essen und nicht viel Konkurrenz.“
Schatten ließ sein Klang-Sehen über ihren Ring streichen, insbesondere über die merkwürdigen Markierungen der Menschen. Dieser dünne Silberring, der sich so vollkommen um ihren Unterarm schloss. Er erinnerte sich an den schönen strahlenden Ring des Sonnenlichts und fühlte sich beruhigt. Es war ein Teil des Großen Versprechens, ein Zeichen. Es war ausgeschlossen, dass der Ring etwas Schlechtes war.
„Du hast so viel Glück“, murmelte er, und dann zuckte er zusammen und bedauerte seine Worte. Sie klangen so grausam nach allem, was sie ihm gerade erzählt hatte.
Marina schnaubte. „Aber ja, er hat mir unheimlich viel Glück gebracht.“
„Nein, du verstehst nicht. Ich wollte sagen …“ Er wusste nicht, wie er anfangen sollte. „Mein Vater hatte einen, einen Ring.“ Und nun stürzten ihm die Worte aus dem Mund. Er erzählte ihr von Cassiel, wie er im Süden verschwunden war. Er erzählte ihr, wie er die Sonne gesehen hatte und wie die Eulen den Baumhort niedergebrannt hatten. Er erzählte ihr vom Echoraum, von der großen Schlacht der Vögel und Vierfüßler, der Verbannung und Nocturnas Großem Versprechen. Und er wiederholte alles, was Frieda ihm über die Ringe erzählt hatte.
Nachdem er geendet hatte, schwieg Marina lange. „Einmal habe ich versucht, ihn abzureißen“, sagte sie gedankenverloren, „nach dem, was die Ältesten gesagt hatten. Aber er liegt so eng an, als wäre er schon immer ein Teil von mir gewesen. Wenn ich mir nicht die Kralle abhacke, wird der Ring immer an mir bleiben. Und weißt du was? Sogar wenn es am allerschlimmsten war, gab es immer noch diesen kleinen Teil von mir, der froh war. Ich denke, ich konnte einfach nicht glauben, dass der Ring so schlimm ist, wie sie es mir sagten. Es war irgendwie … wichtig, ihn zu haben. Irgendwie gut. Das war jedenfalls mein Gefühl.“
Schatten nickte. Er beneidete sie. Suchten sich die Menschen bestimmte Fledermäuse aus, die sie beringten, oder war es einfach Zufall?
„Von Nocturna habe ich gewusst“, sagte Marina, „und ich hatte sogar von der gewaltigen Schlacht gehört – aber sie haben uns nie etwas von diesem Großen Versprechen erzählt. Glaubst du wirklich, dass wir ins Sonnenlicht zurückkehren können?“
„Ich weiß zwar nicht, wie, aber ich werde es herausfinden.“
Marina schaute ihn an und grinste. „Ein
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