Silberflügel: Roman (German Edition)

Titel: Silberflügel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel

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Oder was wäre, wenn das Schiff ihn bereits weiter nach Süden gebracht hatte als die Kolonie? Gut, wie wäre es dann mit Norden? Das gleiche Problem.
    Das brachte alles nichts.
    Sollte er einfach hier warten und darauf hoffen, dass seine Mutter kommen und nach ihm suchen würde? Aber vielleicht hatten sie schon nach ihm gesucht und waren zu dem Schluss gekommen, dass er tot war. Sie hatten gesehen, wie er auf den Ozean hinausgetrieben wurde. Nun, er konnte versuchen den Weg zurück zum Baumhort zu finden und – aber die Erinnerung an die brennenden Ruinen, die er dort zurückgelassen hatte, überfiel ihn mit einem Gefühl der Übelkeit. Auf jeden Fall hatte ihm seine Mutter gesagt, dass es zu kalt wäre, um dort den Winter zu verbringen. Er würde erfrieren. Du kannst nicht einfach hier sitzen. Finde einen Ausweg . Er verschwendete nur seine Zeit.
    Flügelschlagen.
    Seine Ohren stellten sich auf. Am Rhythmus erkannte er, dass es nicht der Flügelschlag eines Vogels war, auf keinen Fall der einer Eule. Es musste eine Fledermaus sein.
    „He! Halt!“, schrie er und schwirrte los in die Richtung, aus der die Flattergeräusche kamen. Er warf seine Klänge aus, glaubte einen hellen Bewegungsblitz zu erfassen, dann verschwand dieser im Laub. Er flog hinterher, die Sinne hellwach.
    „Komm zurück!“, rief er ärgerlich.
    Es war weg. Er kreiste noch eine Minute lang, dann hing er erschöpft von einem Zweig zwischen den hellen Herbstblättern herab. Es war eine zu große Enttäuschung. Tränen brannten ihm in den Augen.
    „Was tust du hier?“
    Schatten sprang beinahe aus seinem Fell. Die Stimme kam von dem hellen eingerollten Blatt neben ihm. Er kroch weg den Ast entlang und blickte vorsichtig hin, jederzeit bereit loszufliegen. Er konnte sehen, dass dieses sprechende Blatt mit Sicherheit viel fetter war als die anderen Blätter, und genau genommen schien es an einigen Stellen mit Fell bedeckt zu sein. Er schaute nach dem Stiel und erkannte, dass es in Wirklichkeit zwei Stiele waren, jeder mit fünf scharfen Krallen.
    „Du bist eine Fledermaus!“, rief er.
    „Du bist ein Genie – natürlich bin ich eine Fledermaus“, kam die Antwort. Die Fledermaus schimmerte und wickelte sich langsam aus. Lange Flügel entfalteten sich und schüttelten sich schnell und kräftig. Dann falteten sich die Flügel wieder zusammen vor einem hellen, prächtigen Fell. Jetzt konnte Schatten den umgekehrt hängenden Kopf erkennen. Sie hatte eine kleine spitze Nase und elegante muschelförmige, eng angelegte Ohren. Sie war auch noch jung, wenn auch nicht ganz so jung wie er selber. Mit dunklen Augen blickte sie ihn an.
    „Ein Silberflügel“, sagte sie. „Das habe ich mir gedacht.“
    Schatten starrte sie an. Er hatte noch nie eine Fledermaus gesehen, deren Fell eine andere Farbe hatte als sein eigenes.
    „Ich bin ein Glanzflügel“, sagte sie schnippisch. „Fledermäuse sind nicht alle gleich, weißt du. Du bist vermutlich zu klein, um das zu wissen.“
    Schatten ärgerte sich, sagte aber nichts.
    „Ich bin Marina.“
    „Schatten.“
    „Also, was tust du hier?“, wiederholte sie ihre Frage.
    „Wir sind nach Süden die Küste lang geflogen …“
    „Du und deine Kolonie.“
    „Richtig, und wir sind in diesen großen Sturm geraten, und ich bin aufs Meer hinausgetrieben worden.“
    „Du bist die ganze Strecke hierher in dem Sturm geflogen?“
    „Nein, ich bin auf einem Schiff gelandet.“
    „Da hast du Glück gehabt.“
    „Ja, es hat mich zum Land zurückgebracht.“ Er runzelte die Stirn und schaute sie an. „Was meinst du mit ‚die ganze Strecke hierher‘? Wo bin ich denn?“
    „Nun, du bist tatsächlich an Land, aber nicht, wo du glaubst. Du bist auf einer Insel.“
    „Einer was?“
    „Einer Insel. Also auf einem Stück Land mit Wasser drum herum.“
    „Ich bin nicht, wo ich losgeflogen bin?“
    „Nein.“
    Schatten schluckte. Er musste es selber sehen. Er erhob sich von seinem Ast und flog direkt nach oben.
    In Spiralen schraubte er sich höher und höher in die Nacht, dann kreiste er auf gleich bleibender Höhe. Er sah die Bucht, wo er angekommen war, und folgte der Küste, die sich in einer großen Kurve immer weiter erstreckte, bis der Kreis sich schloss, während sich bis zum Horizont Furcht erregendes Wasser dehnte. Dieser ganze Ozean zwischen ihm und dem Rest der Kolonie. Und kein Festland in Sicht.
    „Ich werde es nie zurückschaffen“, wisperte er.
    „Es ist ungefähr eine Million Flügelschläge“,