Silberflügel: Roman (German Edition)
sagte Marina munter, als sie zu ihm heransegelte und auf einen Punkt am Horizont wies. „Keine ganz einfache Reise, aber mit Sicherheit nicht unmöglich.“
„Du hast es geschafft?“
„Einmal.“
„Also bist du auch von der anderen Seite gekommen.“
Sie nickte.
Er schaute sie neugierig an. „Warum?“
„Ich bin hierher gekommen, um hier zu leben. Ich weiß, es ist nichts Besonderes, aber es ist mein Zuhause.“
Er erinnerte sich an das geisterhafte Schweigen im Wald. In der Umgebung des Baumhorts waren nachts immer hunderte von Fledermäusen auf der Jagd gewesen.
„Du bist ganz allein hier.“
„Bis du aufgetaucht bist.“
„Und … wo ist der Rest deiner Kolonie?“
„Oh, sie sind irgendwo da drüben“, sagte sie und nickte vage zum Horizont hinüber.
Mehr sagte sie nicht, und Schatten wusste nicht recht, was er weiter fragen sollte. Hatte sie sich verirrt, wie er? Nein, das ergab keinen Sinn. Sie wirkte nicht betrübt. Aber warum sollte man den Wunsch haben, fern von der eigenen Kolonie zu leben? Unvorstellbar, solch eine Abgeschiedenheit. Wie könnte man getrennt von seinen Eltern und Geschwistern und allen anderen Fledermäusen leben, mit denen man aufgewachsen war? Es sei denn, sie war von ihrer Kolonie ausgestoßen worden. Neugierig betrachtete er sie. Was hatte sie getan?
„Ich kann dir die genaue Richtung zeigen, aber erst in der kommenden Nacht“, sagte Marina.
Er wandte sich nach Osten und sah, dass der Himmel sich aufzuhellen began. „Ja“, sagte er. „Danke.“
„Du kannst den Tag an meinem Schlafplatz verbringen. Wenn du willst“, fügte sie hinzu. „Aber wir sollten uns auf den Weg machen. Es gibt keine Fledermäuse auf dieser Insel, aber jede Menge Eulen. Folge mir.“
– 6 –
Marina
Sie führte ihn in den niedrigen Raum unter der Dachschräge eines Holzschuppens nahe der Bucht. Das Nest, das sie sich dort gemacht hatte, befand sich tief in einem Haufen von Fischnetzen, alten Segeln, verölten Decken und dreckigen Blättern, die sie, wie Schatten vermutete, hereingeholt hatte, um sich vor Zugluft zu schützen. Es war dort wunderbar warm und er hatte ein herrliches Gefühl von Geborgenheit, weil er wusste, dass er von dicken weichen Wänden umgeben war. Der Geruch war das einzig Störende – dieser salzige Fischgeruch.
„Man gewöhnt sich daran“, sagte Marina. „Inzwischen mag ich ihn sogar ein wenig.“
„Wie lange lebst du hier schon?“
„Seit dem späten Frühjahr.“
„Und wo willst du überwintern?“
„Ich dachte, ich bleibe hier. Versuch’s wenigstens.“
Anscheinend machte sie sich deswegen keine Gedanken. Schatten nickte und fragte sich, ob es warm genug sein würde. Er hatte keine Anhnung, wie kalt es werden könnte. Im Augenblick war es jedenfalls warm. Aber die Vorstellung, dass sie allein und kalt hier den ganzen Winter verbringen würde, machte ihn traurig, und er dachte an seine Mutter, die Kolonie, die jetzt ohne ihn nach Süden flog. Ungeduldig raschelte er mit den Flügeln.
„Wohin warst du unterwegs?“, fragte Marina.
„Zum Felsenlager, um die Männchen zu treffen.“
„Oh, also bist du ein Jungtier“, sagte sie. „Deine erste Wanderung, eh?“
„Ja.“ Es passte ihm nicht, an sein Alter erinnert zu werden. Dadurch fühlte er sich klein. „Wie viel Wanderungen hast du mitgemacht?“
„Nur zwei“, antwortete sie. „Anderthalb, genau genommen.“ Sie rückte etwas zur Seite, und an ihrem Unterarm blitzte Metall auf.
Erstaunt starrte Schatten hin. Wie konnte ihm das nur entgangen sein? Gleich darauf verstand er, warum: Sie bewegte sich schnell und er sah, sie hatte die Angewohnheit, ihren Unterarm unter den Flügel zu stecken, sodass der Ring nicht zu sehen war.
„Du hast also auch einen!“
Sie blickte ihn scharf an. „Was meinst du?“
„Den Ring! Wie bist du da daran gekommen?“
„Du kennst noch jemanden, der einen hat?“
„Frieda, die Erste unserer Ältesten.“
Marina riss die Augen weit auf. „Eure Älteste hat einen Ring, so wie meinen? Bist du dir sicher? So wie dieser hier?“
Sie streckte ihm den Unterarm hin.
„Also, ich weiß nicht, ob es der gleiche ist, aber …“
„Wie hat sie ihn bekommen?“
„Menschen haben ihn ihr gegeben …“
„Wie lange ist das her?“
„Nun, hm, sie ist ziemlich alt, und sie hat gesagt, sie hat ihn bekommen, als sie jung war, also …“
„Vor zehn, zwanzig Jahren?“
„Mindestens.“
„Und sie ist noch am Leben?“ Sie klang
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