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Silberflügel: Roman (German Edition)

Silberflügel: Roman (German Edition)

Titel: Silberflügel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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bis ihm schwindlig wurde und er erschöpft war und klatschnass sowieso. Nun schaute er zum Himmel hoch und war hingerissen von dem Anblick – als ob ganz langsam die Sterne herunterfielen.
    „Du kannst sie trinken“, sagte Marina. „Pass auf.“
    Er begann ebenfalls damit, Schneeflocken mit dem Mund aufzufangen, auf der Zunge schmelzen zu lassen und so mitten im Flug seinen Durst zu stillen. Er lachte entzückt und das Geräusch erschreckte ihn.
    Es war die zweite Nacht, seit sie Goth und Throbb verlassen hatten. Sie waren stetig weitergeflogen, hatten den Kurs beibehalten und kaum geredet. Diese Nacht war wärmer als die vorherige und Nebel stieg auf. Etwa eine Stunde lang spielten er und Marina mit dem fallenden Schnee, lachten und rollten durch den silbernen Himmel. Und versuchten zu vergessen.
    Dann aber erhob sich ein peitschender Wind und trieb den Schnee schräg von vorn auf sie zu, sodass er ihnen scheußlich in Ohren und Flügel stach. Die Sterne waren längst vollständig verdeckt, und sie hatten keine Möglichkeit ihren Kurs zu halten.
    „Wir sollten lieber landen“, sagte Marina. „Wir können nicht sehen, wo wir hinfliegen.“
    Sie verbrachten den Tag in einer hohen Birke. Als Schatten in der nächsten Nacht seinen Kopf aus ihrem Schlafplatz herausstreckte, war die Welt wie verwandelt. Er war überrascht, wie hell es war. Der Schnee leuchtete im Mondlicht, bedeckte die Erde in sanften Wellen, formte Hügel um die Füße der Bäume und umschloss die Äste, sodass sie weich und dick aussahen.
    Die Landschaft war ein einziges Glitzern. Schon eine Sekunde, nachdem er ihren Rastplatz verlassen hatte, fühlte er, wie ihm durch das Fell hindurch die Wärme ausgesaugt wurde.
    „Hast du schon mal so gefroren wie jetzt?“, fragte er mit klappernden Zähnen.
    „Fliegen ist die einzige Methode, um warm zu werden.“
    Es gab keine Gerüche. Es war, als ob die auch erfroren wären. Aber vielleicht war es auch nur seine Nase, die eingefroren war. Wenn er sie rümpfte, dauerte es ein paar Sekunden, bis die Nasenflügel wieder in die alte Form zurückkehrten. Und es war so still. Kein Summen von Insekten. Kein Quaken eines Frosches oder Zirpen einer Grille. Panik ergriff ihn. Natürlich würde die Kälte die Insekten umbringen oder vertreiben. Wohin gingen die überhaupt? Begaben sie sich ebenfalls auf Wanderschaft?
    „Was sollen wir essen?“
    „Keine Angst, es gibt noch Nahrung.“
    Sie zeigte es ihm. Sie flog niedrig um den Fuß einer Ulme und sagte: „Siehst du das?“
    Er dachte, es wären nur Dreckspritzer im weichen Schnee, bis er bemerkte, dass sich einige von ihnen bewegten, eher hüpften.
    „Schneeflöhe“, erklärte Marina. Es gab Mengen von ihnen und die beiden flogen von Baum zu Baum und schnappten sie sich.
    „Schmecken nicht schlecht“, sagte Schatten. „Besser als Mücken.“
    Auf einem offenen Feld führte sie ihn zu den Eiern einer Gottesanbeterin. Sie hingen an einem Zweig, der aus dem Schnee ragte. Und in den dürren Ästen eines Ahorns fanden sie den Kokon einer Motte, eingehüllt von silbrigem Reif. Auf einem toten Baum zeigte sie ihm, wo die Rinde von Borkenkäfern und Holzameisen weggefressen war, die Insekten waren noch da und man musste nur kratzen und ein bisschen graben.
    Es dauerte nicht lange und er hatte einen warmen, vollen Bauch und fühlte sich schon viel besser.
    „Du bist toll“, sagte er bewundernd.
    Sie lachte. „Für dich ist es einfach der erste Winter. Deshalb weißt du noch nicht, wie’s geht.“
    „Wie hast du das denn alles gelernt?“
    Sie schaute weg. „Meine Eltern haben es mir gezeigt.“
    Es tat ihm Leid, dass er sie daran erinnert hatte.
    „Deine Mutter hätte es dir auch beigebracht“, fügte sie hinzu. „Es ist nichts Besonderes.“
    „Nun, danke, dass du es mir gezeigt hast“, sagte er.
    „Na klar.“
    Er schaute zum Himmel hoch und suchte ihren Leitstern. Er leuchtete heller als sonst, wie auch die anderen – kalte, harte Leuchtfeuer in der Schwärze des Himmels. Sie flogen weiter durch die silberne Nacht.
    Er dachte jetzt häufiger an seinen Vater und manchmal, wenn er glaubte, er könnte nicht eine Minute länger fliegen, zwang er sich zu einem hypnotischen Rhythmus, in dem ihn jeder Flügelschlag ein Stückchen näher zu ihm brachte: so und so und so. Früher hatte ihn der Gedanke getröstet, sein Vater könnte bei den Menschen sein. Nun war diese Vorstellung fast so schrecklich wie die, er wäre unter Eulen.
    „Was ist das?“,

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