Silberflügel: Roman (German Edition)
dichtes Bett vom Regen verfilzter Blätter. Marina wühlte hastig darin herum, dann begann sie sich mit Krallen und Kopf hineinzugraben, schob sich immer tiefer in den Mulch. Schatten verstand und folgte ihr unverzüglich. Rasch arbeitend hatten sie sich bald ein tiefes Nest ausgehöhlt. Marina eilte zum Eingang zurück, zerrte einige Blätter darüber und verwischte so ihre Spuren.
Drinnen war es feucht und kühl und sie schmiegten sich eng aneinander. Schatten war so erschöpft, dass er am ganzen Leibe zitterte.
„Was ist passiert?“, fragte sie ihn.
„Ich habe gesehen, wie Throbb eine Fledermaus gefressen hat.“
„Bist du sicher?“
Er nickte mit klappernden Zähnen. „Ich denke, die Menschen haben Goth getötet. Diese Pfeile.“ Er dachte an den, der ihn knapp verfehlt hatte, und schauderte.
„Was ist mit Throbb?“
Er schüttelte den Kopf. „Als diese Maschine gekommen ist, habe ich ihn aus den Augen verloren.“ Der Anblick des schlaffen Glanzflügels in Throbbs Maul leuchtete wieder in ihm auf und er zuckte zusammen. „Hoffentlich haben sie ihn erwischt“, sagte er rachsüchtig.
„Ich hatte ja gleich ein ungutes Gefühl ihretwegen“, betonte sie.
Schatten schwieg.
„Vor ein paar Nächten bin ich an unserem Schlafplatz aufgewacht, und Throbb hat mich angestarrt, und er hatte etwas in seinem Blick wie Hunger. Als wäre ich Fressen für ihn.“
„Warum hast du mir nichts davon erzählt?“
„Was hättest du denn getan?“
Er seufzte beschämt. „Gelacht. Gesagt, dass du dir was vormachst. Ich bin dumm.“
Fledermäuse, die sich von ihrer eigenen Art ernährten. Sie waren Monster. Kein Tier, von dem er je gehört hatte, tat das, nicht einmal die Eulen.
Plötzlich überkam ihn ein Gefühl von Selbstekel. Er hatte Goth vertraut und ihm alles geglaubt. In den Dschungel ziehen, eine Armee aufstellen, die Vögel und Vierfüßler ein für alle Mal besiegen. Er hatte geglaubt, sie würden Verbündete. Er hatte geglaubt, es wäre alles ein Teil des Großen Versprechens.
„Du wolltest so sein wie sie“, sagte Marina.
Er nickte jämmerlich. Schau mich an!, rief es in seinem Inneren. Schau, wie klein ich bin! Wer würde nicht solche Macht haben wollen, die Macht, eine Eule zu töten? Die Macht, sie daran zu hindern, deinen Zufluchtsort niederzubrennen, die Macht, deiner Kolonie zu helfen und deinen Vater zu finden …
„Aber warum haben sie uns nicht gleich gefressen?“, fragte er.
„Zunächst brauchten sie uns, um ihnen die Flugrichtung zu geben. Nachdem wir ihnen gezeigt haben, wie man sich an den Sternen orientiert, brauchen sie uns nicht mehr.“
„Ich habe gedacht, du wärst es, Marina. Zuerst, als ich gesehen habe, wie er diese Fledermaus gefressen hat, da habe ich gedacht, das wärst du.“
„Er muss wohl eine versprengte Fledermaus gefangen haben“, sagte sie gleichmütig.
Er schauderte wieder und sie rückten näher zusammen und umhüllten sich gegenseitig mit den Flügeln.
„Sie wollten uns alle töten, die Menschen, nicht wahr?“, murmelte Marina finster. „Meine Kolonie hat die ganze Zeit Recht gehabt. Die Menschen sind böse.“
Schatten biss die Zähne zusammen. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Diese Maschine kam direkt auf uns zu“, fuhr Marina fort. „Sie haben gewusst, wo wir waren.“
„Wie denn?“
„Die Ringe“, hauchte sie. „Das muss es sein. Sie verraten ihnen, wo wir sind.“
Schattens Fell sträubte sich. Der Gedanke, dass diese Maschine zurückkommen würde, dass diese Pfeile sie treffen würden …
„Die Ringe bedeuten nichts, oder?“, sagte Marina wild. „Das Einzige, was der Ring tut, er macht mich kenntlich, sodass sie kommen und uns töten können. Kein Wunder, dass meine Kolonie mich verscheucht hat. Sie haben Recht gehabt. Ich bin verflucht.“
„Hör auf damit“, sagte Schatten heiser.
„Und du hast auch Recht gehabt. Die Menschen werden uns nicht helfen. Und solange ich bei dir bin, bist du auch in Gefahr.“
Er kniff die Augen zu und wünschte, er könnte alle Gedanken aus dem Kopf verscheuchen. Alles war zusammengestürzt. Er wusste nicht, was ihm noch übrig geblieben war, woran er noch glauben konnte. Er hatte sich so sicher gefühlt, als er den Echoraum im Baumhort verlassen hatte. Und nun, was wusste er denn noch? Die Ringe hatten keine Bedeutung. Wofür hatte dann sein Vater sein Leben riskiert? Was wusste Frieda?
Vielleicht gab es auch das Große Versprechen gar nicht. Es war eine Geschichte, eine Lüge,
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