Silberflügel: Roman (German Edition)
keinen Sinn. Warum sollte ihm seine Mutter singen, er solle Wölfe aufsuchen? Sie waren die gefürchtetsten Tiere im Norden.
„Wir sollen anscheinend dahin, wo die Wölfe sind.“ Er schüttelte den Kopf. „Und offenbar sollen wir ganz nahe heran, denn ich sehe einen Wolf, ganz weiß, der auf mich zuspringt, und das Letzte, was ich sehen kann, sind seine spitzen Ohren.“
„Das ist also der Orientierungspunkt, ja?“, fragte Marina.
„Es tut mir Leid …“
„Das ist so gut wie unbrauchbar“, unterbrach sie ihn. „Es bedeutet gar nichts, es sei denn deine Mutter wollte, dass du gefressen wirst.“
„Es ist das, was sie mir gesungen hat“, sagte er bestimmt.
Sie seufzte. „Ist ja gut. Immerhin wissen wir, dass wir in die Richtung von Bergen fliegen. Wir müssen einfach weitermachen und hoffen, dass du den richtigen Ort erkennst. Wenigstens werden Goth und Throbb, falls sie noch am Leben sind, dort oben nicht lange durchhalten.“ Sie schaute ihn an. „Wir allerdings auch nicht.“
„Mit meinem Flügel ist etwas nicht in Ordnung“, sagte Throbb. Er legte ihn an, breitete ihn wieder aus. „Er ist an der Spitze ganz hart geworden.“
Goth gähnte. „Das liegt daran, dass du ein elender Schwächling bist“, sagte er. Er würde Throbb nicht von der Steifheit in seinen eigenen Flügeln erzählen und nicht davon, dass er sich jede Nacht erst geschmeidig machen musste, ehe er losflog. Diese verdammte Kälte. Es gab kein Entrinnen vor ihr. Sie kroch durch die Haut und setzte sich tief in den Knochen fest.
„Er sieht nicht gut aus“, jammerte Throbb. Er starrte immer noch auf seinen Flügel.
Goth schaute hin und sah, dass die Membrane teilweise fleckig und von Blasen bedeckt war. Im Dschungel hatte er Flügel gesehen, die verfaulten und abfielen, aber nie solche dicken Geschwüre.
„Ich sehe nichts“, knurrte er. Aber er untersuchte sofort seine eigenen Flügelspitzen. Sie waren in Ordnung. Throbb war schwächlich, deshalb bildeten sich Blasen auf seinen Flügeln.
Wie lange dauerte der Winter? Vier Monate, hatte das Schatten nicht gesagt? Er wusste, sie würden im Freien nicht mehr lange überleben. Sie mussten einen warmen Ort finden. Sie mussten Hibernaculum erreichen.
Nahrung war auch schwieriger zu bekommen. Die Erde war gefroren. Alles, was Goth in den vergangenen beiden Nächten gefunden hatte, war ein Eichhörnchen, das er aus seiner Höhle in einem Baum ausgegraben hatte. Sein Blick wanderte zu Throbb. Er hatte an Gewicht verloren, seit sie den künstlichen Dschungel verlassen hatten, aber es war noch eine Menge Fleisch an ihm dran. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen.
„Was?“, fragte Throbb nervös.
„Nichts“, sagte Goth. Throbb könnte noch nützlich für ihn sein.
Zotz würde ihn selber nicht erfrieren lassen. Er wurde geprüft, und nur Feigheit würde bestraft werden.
Jede Nacht richteten sie ihren Kurs an dem Stern aus, den Schatten ihm gezeigt hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn einholten. Kommende Nacht wäre es so weit, da war er sicher.
Dann würde er von Schatten den Rest der Klangkarte bekommen.
Und ihn anschließend fressen.
In Hibernaculum würde er mit der traurigen Nachricht von Schattens Tod eintreffen und sich mit den Silberflügeln anfreunden.
Dann hätte er einen warmen Platz, an dem er den Rest des Winters verbringen konnte.
Und alle Nahrung, die er brauchte.
– 16 –
Die Verwandlung
Schatten fror jetzt fast ununterbrochen. Er versuchte sich an den Baumhort in einer heißen Sommernacht zu erinnern, aber es gelang ihm nicht.
Das Gelände war während der letzten drei Stunden stetig angestiegen. In der Ferne erhoben sich kahle Berge mit öden eisbedeckten Gipfeln.
„Mir gefällt das nicht“, sagte Marina. „Warum sollte deine Kolonie hier lang fliegen? Es ist so kalt.“
Schatten starrte deprimiert auf die Landschaft. Es gab jetzt weniger Bäume und Sträucher und der Boden war felsiger. Ein Rastplatz würde schwer zu finden sein. Mit Sicherheit waren auch Wölfe in der Gegend. Er konnte sie jetzt hören, wie sie ihr Furcht erregendes Klagegeheul zum Himmel sandten.
Ohne Vorwarnung kreischte ein Sturm vom Berg herab, und plötzlich war die ganze Welt ein einziger weißer Wirbel.
„Marina!“, schrie er über das Getöse. „Wo bist du?“
„Hier, hier!“, meldete sie sich, und er konnte sie schemenhaft sehen, als sie sich mühte an seine Seite zu kommen.
Schneewirbel trieben ihm in die Augen. Sein Klang-Sehen lieferte
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