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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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entkommen?
    Als Cathy und Dan fertiggegessen hatten, erhob ich mich und begann, den Tisch sorgfältig abzuräumen. Dan trug zwei Platten mit in die Küche und verschwand dann ohne ein Wort. Nervös und mit lautem Geklapper verpackte Cathy die Reste. Als ich verlegen neben ihr herumstand, befahl sie mir ungehalten: »Geh in dein Zimmer. Du wirst fasten und die Bibel lesen.«
    Damit war ich entlassen. Unhörbar wie in meiner Zeit als Licht, schlich ich durch den Flur und horchte an der Tür des Arbeitszimmers, die nur angelehnt war. Im Zimmer brannte eine Lampe, und ich konnte Dan telefonieren hören.
     
    Wenig später streifte ich ruhelos durch Jennys Zimmer und beobachtete meinen Schatten, der sich auf dem Teppich bog und tanzte. Nach dem vergeblichen Versuch, mich auf die Lektüre einiger Gedichte zu konzentrieren, stellte ich mich vor den Frisiertisch, bürstete mein Haar und dachte bei jedem Strich: »Nur noch zwölf Stunden.«
    Schließlich setzte ich mich an den Schreibtisch und öffnete die Schublade mit dem üblichen Sammelsurium an Büroklammern, Stiften und Gummibändern, die Jenny ordentlich mit Plastiktrennstreifen sortiert hatte. Ich fand einen Anstecker mit der Aufschrift WWJD . Die Buchstabenkombination hatte ich schon einmal gesehen, konnte mich jedoch nicht an ihre Bedeutung erinnern.
    Es gab auch eine Mappe mit Jennys zusammengehefteten Zeugnissen, die seltsamerweise mit FORTSCHRITT überschrieben war. Im Herbstsemester hatte Jenny sieben Kurse besucht und siebenmal die Bestnote A bekommen, ebenso im darauffolgenden Frühjahrssemester. Die Sommerschule hatte sie am sechsten Juli mit zwei A minus und einem B absolviert. Das Datum sagte mir etwas, doch wieder konnte ich es nicht zuordnen. Ich schloss die Mappe, nahm einen Bogen Schreibpapier und einen Stift aus der Schublade und begann, einen Liebesbrief an James zu schreiben.
     
    »Sehr verehrter Herr, zwölf Stunden sind wie zwölf Jahre für mich. Ich stelle mir vor, wie Du in Deinem Heim lächelnd an mich denkst. Dass ich das Geheimnis Deines Herzens bin, lässt Lieder der Freude in mir erklingen. Ich wünschte, ich könnte hier in meinem Käfig von Dir singen. Du bist das heimliche Gedicht meiner Seele. Ich lese Dich immer wieder, präge Dich mir ein, jeden Moment, den wir voneinander getrennt sind.«
     
    Ich wusste, dass es alberne, mädchenhafte Zeilen waren, die ich da zu Papier gebracht hatte, doch sie beruhigten mich.
    Es klopfte scharf an der Tür. Ich schrak zusammen und zog eine Narbe aus Tinte über das untere Ende der Seite. Als Dan die Tür öffnete, versteckte ich das Papier in der obersten Schreibtischschublade. Sein Blick fiel auf die Bibel, die ungeöffnet auf dem Frisiertisch lag. Ich faltete meine Hände wie zum Gebet.
    »Wenn dein Herz rein ist, geh ins Bett.«
    »In Ordnung.«
    Beim Knall der zuschlagenden Tür hüpfte das Jesusbild an der Wand. Wie am Vorabend ging ich ins Bad, um meinen Schlafanzug anzuziehen. Cathy saß bereits an meinem Bett, das Magazin auf ihrem Schoß.
    »Bist du mit Gott im Reinen?«, fragte sie mich eisig.
    Nein, dachte ich, aber meine Strafe habe ich ja bereits erhalten. Laut sagte ich: »Ja.« Ich wollte mir nicht ausmalen, was passierte, wenn ich ihre Frage verneint hätte.
    »Reiß dich zusammen, junge Dame, so ein Abendessen wie heute will ich nicht noch einmal erleben.«
    »Das möchte ich auch nicht.« Ich warf einen Blick auf das Magazin. »Heute würde ich dir gerne etwas vorlesen«, sagte ich. Ich legte mich unter die Decke und nahm ein Buch aus der Bibliothek vom Nachttisch.
    Cathy runzelte die Stirn.
    »Es handelt vom Himmel«, versicherte ich ihr.
    »Warum – sperrt man mich aus vom Himmel?
    Sang ich denn – zu laut?
    Doch – sprech ich auch ›gedämpfter‹
    Als scheue Vogelart!
    Wollen Engel mich nicht prüfen –
    Noch – einmal – nur –
    Sehn – ob ich es war, die störte –
    Schließt doch nicht die Tür!«
     
    Ich sah auf, doch Cathy hatte sich keinen Millimeter bewegt. Während ich weiterlas, blickte sie mit zusammengepressten Lippen auf den Boden, als würde sie auf etwas Saures beißen. Das Gedicht war eines von Mr. Browns Lieblingsstücken, und ich konnte es auswendig rezitieren.
    »Oh, wäre ich – der Hohe Herr
    In dem ›Weißen Rock‹ –
    Und sie – die kleine Hand – die klopfte –
    Wehrte – ich – sie ab?«
    Ich schloss das Buch und wartete.
    »Was ist das für ein Gedicht?«, fragte Cathy.
    »Emily Dickinson.«
    »Pass auf, was du dir

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