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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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schob einen Einkaufswagen voller Tüten vor sich her, seine Augen starrten ins Leere, sein Mund bewegte sich wie in einem stummen Gesang. Ich sah, dass er auf die Straßenecke zuschlurfte, obwohl er keine Füße hatte. Unter den Knien lösten sich seine Beine in Rauchschwaden auf, die wie Pfeifendunst hinter ihm herzogen. Meine Brust schmerzte bei diesem traurigen Anblick. Ich fühlte James’ warme Hand auf meinem Rücken.
    »Alles okay«, flüsterte er. »Das ist einer von ihnen.«
    »Kann er uns sehen?«, flüsterte ich. Meine Haut kribbelte.
    »Nein«, antwortete er. »Er weiß nicht, dass er tot ist.« Er legte seine Hand um meine Hüfte.
    »Können wir ihm helfen?«
    »Ich fürchte nicht.«
    Der Geist des Mannes verschwand, als sei ein Vorhang zwischen uns zugezogen worden. Doch dies machte mir nicht so viel Angst wie das, was ich im nächsten Moment sah. Wellen der Furcht krampften meinen Magen zusammen, als ein kastanienbraunes Auto heranrollte.
    »Das ist ihre Mutter«, sagte ich. James zog seine Hand zurück.
    »Ich will nicht mit ihr gehen. Ich will bei dir sein.«
    »Denk einfach an all die amüsanten Dinge, die heute Nacht passieren könnten und die du mir morgen erzählen kannst«, versuchte er mich aufzumuntern.
    »Was, wenn ich mit dir sprechen möchte?«, flüsterte ich, als das Auto näher kam.
    »Fünf, fünf, fünf, vierundzwanzig, zwölf«, flüsterte James zurück. »Wie Weihnachten. Vierundzwanzig, zwölf. Ganz leicht zu merken.«
    Ich konnte Cathys Gesicht schon sehen. Sie lächelte, bis sie bemerkte, wie ich James einen Blick zuwarf. Das Auto hielt an, und die Türen wurden mit einem mechanischen Klicken entriegelt. Ich drehte ihr den Rücken zu, als ich mir meine Büchertasche über die Schulter hängte. »Ich will dich küssen«, flüsterte ich.
    »Ich möchte noch mehr als das«, gab James leise zurück.
    Als ich mich dem Auto zuwandte und der Frau hinter dem Steuer ein gezwungenes Lächeln schenkte, fühlte ich mich wie eine Gefangene.
    »Hallo«, sagte ich, als ich mich neben sie setzte. Ich schlug die Tür zu und sah ein letztes Mal zu James, der mir kurz zuwinkte. Cathy setzte eine steinerne Miene auf.
    »Wer war das?«, fragte sie mit kaum verhohlener Anspannung in der Stimme.
    »Nur ein Junge«, antwortete ich. »Er ist nett.«
    »Erinnere dich, was ich dir über Jungen gesagt habe, die mit dir flirten«, ermahnte sie mich.
    »Hab keine Angst«, sagte ich. »Er ist ein Gentleman.«
    »Ach ja?« Sie betätigte die Türverriegelung, die unheilverkündend zuschnappte.

[home]
    Kapitel 10
    Z u Hause angekommen, beschloss ich wie am Morgen, ein Bad zu nehmen. Diesmal jedoch benutzte ich einen Becher vom Waschbecken, um mein Haar mit dem warmen Wasser zu benetzen. Ich wollte James’ Geruch nicht verlieren, doch ich fürchtete, jemand könnte seinen Duft an mir wahrnehmen. Als ich in Jennys Bademantel schlüpfte und die schmutzigen Kleider vom Boden aufsammelte, bemerkte ich einen Blutfleck in ihrem Slip. Ich drehte den Wasserhahn auf und begann, den Fleck mit Hilfe einer rosenförmigen Seife aus dem Stoff zu bürsten.
    »Liebling?« Nach einem leisen Klopfen öffnete Cathy die Tür. Ich zuckte zusammen und verfluchte mich, nicht abgeschlossen zu haben. Sprachlos starrte sie zu mir herüber. »Hast du geduscht?«
    »Nein.« Ich versteckte den Slip in meiner Faust. »Gebadet.«
    »Geht es dir gut?« Sie sah auf meine Hände. »Was tust du da?«
    »Ich habe nur ein paar Sachen mit der Hand gewaschen.« Ich lächelte, doch sie sah immer noch besorgt aus.
    »Stimmt etwas nicht?«, fragte ich.
    Als Antwort zog sie die Augenbrauen in die Höhe. Ich schlüpfte an ihr vorbei aus dem Badezimmer, die nasse Unterhose in Jennys trockene Kleider gewickelt. Bevor ich sie in den Wäschekorb werfen konnte, sah ich erschrocken, wie Cathy neben meiner offenen Büchertasche stand und die Bücher aus der Bibliothek inspizierte.
    »Was ist das?«, fragte sie und hielt mir
Romeo und Julia
entgegen.
    »Ein Theaterstück.«
    »Ich dachte, du hättest dieses Semester kein Englisch.«
    »Habe ich auch nicht«, erklärte ich. »Ich möchte es einfach nur lesen.«
    Cathy sah nicht überzeugt aus, doch sie legte das Buch zurück in die Tasche. »Zieh dir etwas an. Es ist gleich Zeit für die Hausaufgaben«, sagte sie. »Wir treffen uns um fünf Uhr am Tisch.« Beim Hinausgehen wischte sich Cathy die Hände an ihrer Kleidung ab, als müsse sie Shakespeare von ihren Fingern entfernen.
    Ich zog mich um und ging mit

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