Silberlicht
aus der Bibliothek ausleihst.« Sie glättete die Zeitschrift auf ihrem Schoß mit der Hand. »Wäre es nicht angemessener, etwas Inspirierendes vor dem Schlafen zu lesen?«
»Hat es dich nicht inspiriert?«, fragte ich.
Sie hob die Augenbrauen. »Du weißt genau, dass ich Gedichte über Gott meine.« Cathy stand auf und klemmte sich
Seine Wege
unter den Arm. »Sprich deine Gebete und tritt Ihm nicht ohne ein reuevolles Herz gegenüber.«
Bevor sie die Tür hinter sich schloss, sah sie zu mir zurück, als ob sie erwartete, dass ich ein Buch über Hexerei unter dem Kopfkissen hervorzöge.
Wie in der Nacht zuvor – die schon so lange zurückzuliegen schien –, wartete ich, bis vollkommene Ruhe im Haus eingekehrt war, und wagte mich dann in den stockdunklen Flur hinaus. In der Küche nahm ich behutsam den Telefonhörer von der Wand und wählte James’ Nummer. Es war besetzt, ein Geräusch, das ich kannte, dessen irritierende Lautstärke mich jedoch erschreckte.
Als ich den Hörer wieder auflegte, erinnerte ich mich an Dans Drohung, mich von der Schule zu nehmen. Ich hatte die fürchterliche Vorstellung, dass Jennys Eltern mich stattdessen auf eine christliche Mädchenschule schicken würden. Panik stieg in mir auf, gefolgt von verzweifelter Einsamkeit. Wieder nahm ich den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer, die mir nach langen Jahren so vertraut war.
»Hallo?« Der Klang seiner Stimme war mir schmerzhaft teuer. »Hallo??«, wiederholte Mr. Brown.
Ich wollte etwas sagen, nur um ihn noch einmal sprechen zu hören. Nach einem fiktiven Namen fragen, so dass er mir erklären konnte, falsch verbunden zu sein. Doch ich brachte keinen Ton heraus. Meine Kehle war wie zugeschnürt, und Tränen rannen heiß über mein Gesicht.
»Ich kann Sie nicht hören«, sagte er. Mein Mr. Brown. So höflich, selbst jetzt.
»Wer ist dran?«, hörte ich seine Frau aus der Nähe fragen. Wahrscheinlich lagen sie mit einem Buch im Bett oder waren gerade dabei, sich umzuziehen.
Der sanfte, leise Klang seines Lachens schnitt mir ins Herz. »Wenn das ein Computer ist …«
»Leg auf«, sagte sie.
Ich hatte den unteren Teil des Telefonhörers mit meiner Hand abgedeckt, doch mein Schluchzen musste zu ihm durchgedrungen sein. »Hallo?«, fragte er wieder. Dann flüsterte er Mrs. Brown zu: »Ich kann jemanden hören.«
»Wenn das ein obszöner Anruf ist, gib ihn mir«, scherzte sie, doch die Verbindung brach ab.
[home]
Kapitel 11
A ls ich am nächsten Morgen ins Auto stieg, brachten mich die leichten Schmerzen zwischen meinen Beinen zum Lächeln. Cathy schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein, was mir nur recht war. Vor unserem morgendlichen Treffen in der Gebetsecke hatte sie eine angespannte Unterhaltung mit Dan geführt, der uns anschließend über die Gefahren aufklärte, die es mit sich brachte, Gottes Willen nicht zu gehorchen. Vielleicht war er immer noch verärgert über mein Benehmen beim Abendessen, oder vielleicht hatte Cathy ihm auch von meiner Neigung zu Emily Dickinson erzählt. Jedenfalls betonte er immer wieder, dass Eigensinnigkeit ins Unglück führe. Bedächtig wählte er einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift und trommelte mit den Fingern auf seinem Knie herum, während Cathy den Text aus Jesaja vorlas. Wort für Wort schrieb ich mit: »Wohin soll man euch noch schlagen? Ihr bleibt ja doch abtrünnig. Der ganze Kopf ist wund, das ganze Herz ist krank.«
Cathy schaltete den Radiosender KDOV ein. Unnatürlich ruhige Stimmen sangen ein Lied namens
Blessed Forgiveness.
Während der Fahrt sprach Cathy kein Wort. Ich erinnerte mich an einen seltsamen Traum, in dem ich wie ein Dickenscher Weihnachtssänger vor der Himmelspforte stand, mit den Füßen auf der Stelle trat, um warm zu bleiben, und versuchte, durch ein winziges milchiges Fenster zu sehen. Schließlich hatte eine scharfe Stimme gesagt: »Geh nach Hause!«
Als wir auf den Schulparkplatz fuhren, kämpfte ich mit dem Sitzgurt, der zu klemmen schien.
»Lass dich nicht vom Teufel verführen.« Cathy sah mich an, als würde unser aller Leben davon abhängen.
»Ich werde es versuchen.« Ein seltsames Bild erschien vor meinen Augen: ein Kostümball mit Teufeln und Engeln, die als die jeweils anderen verkleidet waren.
Langsam ging ich in den Schulhof, auf der Suche nach James, doch stattdessen erblickte ich Mr. Brown. Wie eine Braut, die ihren Vater vermisst, folgte ich ihm in einiger Entfernung und freute mich an der vertrauten Farbe
Weitere Kostenlose Bücher