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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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zu mir herauf. Die beiden Stimmen klangen unbeholfen und dennoch frei von Scham. Ich erkannte den Vers schon an den ersten Worten. Shakespeare. Romeo verführte Julia zu einem ersten Kuss. Plötzlich kam ich mir töricht vor. Warum versteckte ich mich? Julia würde nicht auf ihrem Bett sitzen und weinen, bis man sie mit Paris verheiratet hatte. Los, geh und such ihn, befahl ich mir.
    Ich verließ mein Versteck, und es war mir völlig egal, ob die Theaterklasse mich sah. James war vielleicht einfach zu spät zur Schule gekommen, sagte ich mir. Ich ging zum Sekretariat und inspizierte die Liste der fehlenden Schüler, die neben den Postfächern an einem Klemmbrett hing, und anhand deren die Eltern kontaktiert werden konnten. Die Namen der Zuspätkommenden wurden durchgestrichen, doch Billys Name war unversehrt. Olivia beendete ihr Telefonat, und aus irgendeinem Grund nervte sie mein Anblick. Schnell verließ ich ihr Büro und tat so, als würde ich nicht hören, wie sie hinter mir herrief.
     
    Ich lief zu der Telefonzelle, in der James und ich das erste Mal miteinander gesprochen hatten, und rief bei ihm zu Hause an. Libby ging an den Apparat.
    »Ist Billy daheim?«
    »Nein«, antwortete sie. Im Hintergrund hörte ich jemanden mit ihr sprechen. »Wer ist denn dran?«, fragte sie.
    »Ich bin eine Freundin aus der Schule«, erwiderte ich. »Ich habe mir Sorgen um ihn gemacht.«
    »Er ist gegen Kaution entlassen worden«, sagte sie, woraufhin ich abrupt auflegte. Der Schulpsychologe Mr. Olsen stand vor der Tür und wartete auf mich. Als ich ins Freie trat, hatte ich das Gefühl, bei einem Diebstahl ertappt worden zu sein.
    »Jennifer, würdest du bitte mit ins Büro der Direktorin kommen? Wir müssen mit dir sprechen.« Er lächelte, doch seine Augen waren dunkel und angespannt.
    Still wie ein Kriegsgefangener ging ich neben ihm her. Er und ich hatten keine gemeinsame Sprache. Er war ein sanfter Mann, der mir bislang kaum aufgefallen war. Die Leidenschaft, mit der er jetzt immer wieder dieselbe Nummer in sein Mobiltelefon tippte, war das Lebendigste, was ich ihn je hatte tun sehen. Er schwieg, während er ins Handy horchte und es schließlich frustriert in seiner Tasche verstaute. Als wir das Verwaltungsgebäude betraten, hielt ich meine Tasche eng an meine Brust gepresst und den Kopf gesenkt. Im Büro der Direktorin stockte mir der Atem. Dan und Cathy erhoben sich von zwei Stühlen, die an der gegenüberliegenden Wand standen. Cathy schien jeden Moment in Tränen auszubrechen. Dan war so angespannt, dass die Muskeln in seinem Nacken zuckten.
    »Was macht ihr denn hier?«, fragte ich.
    Cathy wollte etwas sagen, doch Dan unterbrach sie. »Jennifer Ann, bitte warte, bis man dich zum Sprechen auffordert.«
    Die Direktorin war nicht da, hinter ihrem Schreibtisch saß der stellvertretende Direktor Flint. Mr. Brown war immer höflich zu ihm gewesen, doch keiner von uns beiden hatte den Mann gemocht. Flints Gruß war leer und sein Lächeln gezwungen. Er erhob sich halb von seinem Stuhl und bedeutete mir, neben dem Schreibtisch Platz zu nehmen, wo ein einsamer, isolierter Stuhl stand.
    »Wir müssen dir ein paar Fragen stellen«, begann Mr. Flint.
    Sag nichts, befahl ich mir. Sie wissen nichts über James. Ich hatte seinen oder Billys Namen mit keiner Silbe erwähnt.
    Mr. Olsen trat hinter den Schreibtisch und flüsterte Flint etwas ins Ohr, das diesen offensichtlich verärgerte.
    »Ich habe die Verantwortung, wenn sie nicht da ist«, sagte der Vizedirektor. »Lassen Sie mich meine Arbeit machen.«
    So abgewiesen, stellte sich Mr. Olsen neben Cathy. Wieder hielt er sein Handy in der Hand und sah aus, als warte er in der Todeszelle auf die Begnadigung durch den Gouverneur.
    »Jenny, deine Eltern haben erfahren, dass du seit kurzem mit jemandem zusammen bist«, sagte Mr. Flint. Auf seinem Platz hinter dem ausladenden Schreibtisch wirkte er wie ein Thronräuber und schien sich dort sehr wohl zu fühlen.
    »Wo ist die Direktorin?«, fragte ich, um vom Thema abzulenken.
    »Sie ist heute nicht in der Stadt.« Mr. Flint glättete seine Krawatte und korrigierte sein Lächeln. »Deine Mutter hat das hier bei dir gefunden.« Er reichte mir ein Stück Papier in einer Klarsichtfolie, Beweisstück A in meiner Gerichtsverhandlung.
    Mir schoss das Blut in die Wangen. Der Text begann mit den Worten: »Verehrter Herr: Zwölf Stunden sind wie zwölf Jahre für mich.« Und endete folgendermaßen: »Ich lese dich immer wieder, präge dich

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