Silberlicht
ich auch noch die unverzeihliche Sünde begangen, heimlich Fotos zu machen. Als sich die Tür öffnete, schrie ich vor Schreck auf.
Cathy sah mich so kalt an, als hätte ich sie mit unflätigen Schimpfworten bedacht. Ich versuchte zu lächeln, als ich unter die Bettdecke kroch. Sie kam an meine Seite und schob mir ein Thermometer unter die Zunge. Eine ganze Minute saßen wir schweigend nebeneinander. Sie hielt die Arme fest verschränkt, ihr Fuß tippte nervös auf den Boden, und ihre Augen waren von neuem gerötet.
»Kein Fieber«, sagte sie endlich. »Brauchst du eine Schmerztablette?« Sie schüttelte das Thermometer, als wolle sie es bestrafen.
»Nein«, antwortete ich. Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: »Es tut mir leid, dass ich dich verärgert habe.«
»Wir werden später darüber reden«, erwiderte sie. »Mit deinem Vater.«
Das klang unheilverkündend. »Heute Abend noch?«
»Er kommt wahrscheinlich erst spät.« Sie starrte auf den Boden und hielt das Thermometer wie eine Kerze. »Sprich deine Gebete«, sagte sie, ohne mich anzusehen.
»Das werde ich«, versprach ich. Ich betete sowieso ununterbrochen – Wellen des Flehens.
»Und bitte Gott um Vergebung, wenn du deine Sünden beichtest.« Mit diesen Worten ließ mich Cathy allein.
Ich durchsuchte meine Tasche, doch die Kamera und alle meine Bücher waren noch da. Ich überlegte, auf der Polizeiwache anzurufen und nach James zu fragen, wollte jedoch warten, bis Cathy schlafen gegangen war. Ich saß auf meinem Bett, zu besorgt, um lesen zu können, und horchte, wie sie durch den Flur ging, im Bad hantierte und wieder die Diele überquerte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich eingeschlafen war – nur vage, dass jemand meine Nachttischlampe ausschaltete.
Die Atmosphäre war beklemmend, und ich drehte das Autoradio an. Als ich an diesem Morgen in die Küche gekommen war, hatten Dan und Cathy wegen irgendetwas gestritten. Und auch wenn ich vermutete, dass es dabei um mich ging, stellten sie mir keine Fragen und gaben mir keine Anweisungen. Die Sitzung in der Gebetsecke war kurz, ein langes, stilles Gebet, nur von wenigen Bibelweisheiten ergänzt. Die ausgebliebenen Ermahnungen hingen wie eine düstere Prophezeiung über mir. Cathy sah aus, als habe sie kein Auge zugetan. Sie umklammerte das Lenkrad so fest, dass sich die straffen Muskeln ihrer dünnen Arme unter dem Pullover abzeichneten. Sie gab mir keinen Kuss und verabschiedete mich nur flüchtig. Ich sah ihr nach, wie sie in ihrem Wagen davonrollte, und es hätte mich nicht überrascht, wenn sie die Schüler vor ihr auf der Straße überfahren hätte.
Ich stellte mich mitten auf den Hof und hielt verzweifelt nach James Ausschau, doch er war nirgends zu sehen.
Kaum hatte der Unterricht begonnen, bat ich darum, die Toilette aufsuchen zu dürfen. Am liebsten hätte ich mich in einem Loch verkrochen. Stattdessen versteckte ich mich in dem alten Theater. Die schwarze Stoffbahn lag immer noch so da, wie wir sie damals vorgefunden hatten. Ich schnupperte daran in der Hoffnung, James’ Duft in dem zarten Gewebe wiederzufinden, doch sie roch nur nach Farbe. Ich weinte in meinen Pullover, der meine Schluchzer dämpfte.
Ein schleifendes Geräusch ließ mich aufblicken. Mit dem Ärmel wischte ich mir die Tränen aus den Augen. Da war es wieder, das Schleifen, wie der Bauch einer Schlange auf Stein. Ich lehnte mich über das Geländer des Speichers und sah eine Frau in der Dunkelheit vor und zurück wabern, so zart und gelblich schimmernd wie eine Zwiebelhaut. Ihr langes Kleid floss hinter ihr her, und ihr lockiger Kopf war über ein kleines Buch gebeugt. Ein leichter, lieblicher Duft nach Kerzenwachs schwebte zu mir nach oben. Sie las mit hauchdünner Stimme, zu leise, um sie zu verstehen. Sie hielt inne, drückte das Buch an ihr durchsichtiges Herz und schloss die Augen. Ihr transparentes Gesicht leuchtete, und sie bewegte ihre Lippen, als würde sie ihre Zeilen der ewigen Erinnerung überantworten.
Die Klingel war so laut und schrill, sie vibrierte in mir wie ein durch mich hindurchfahrender Zug. Die Erscheinung verschwand. Die leere Bühne lag in vollkommener Dunkelheit, bis sich eine Gruppe Schüler wie ein Suchscheinwerfer darauf ausbreitete. Ich hörte die Theaterklasse der zweiten Stunde durcheinanderreden und ihre Sachen lautstark in der ersten Sitzreihe ablegen.
Die strenge Stimme ihres Lehrers unterbrach den Aufruhr und beorderte zwei Schüler auf die Bühne. Worte hallten
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