Silberlinge
waren die Male etwas heller geworden, beinahe schon dunkelrot. »Sie warnen mich, wenn ich kurz davor stehe, die Kontrolle zu verlieren. Rot bedeutet Gefahr.«
Am ersten Abend war Susan eine Weile im Schatten geblieben und hatte das Gesicht abgewandt. Offenbar, um ihre Tätowierungen zu verbergen.
»Komm«, sagte ich leise. »Setz dich.«
Sie ließ sich aufs Sofa sinken und erwiderte meinen Blick.
»Harry«, flüsterte sie. »Es tut weh. Es tut weh, dagegen anzukämpfen. Ich ermüde, wenn ich mich dagegenstemme, und weiß nicht, wie lange es mir noch gelingt.«
Ich kniete nieder, bis ich auf Augenhöhe mit ihr war. »Vertraust du mir?«
»Aus ganzem Herzen. Mit meinem Leben.«
»Schließ die Augen«, sagte ich. Dann stand ich auf und ging langsam zum Küchenschrank. Ich ließ mir Zeit, denn man läuft nicht schnell vor etwas weg, das einen für ein Lebensmittel hält. Das löst nur den Jagdtrieb aus. Was sich auch in ihr eingenistet hatte, es wurde stärker – ich konnte es spüren und in ihrer Stimme hören.
Ich schwebte in Gefahr, aber das spielte keine Rolle, weil es ihr nicht besser erging.
In der Schublade des Küchenschranks bewahre ich einen Revolver und ein kurzes silbrig weißes Seil auf. Ich nahm das Seil und kehrte zu ihr zurück.
»Susan«, sagte ich leise. »Gib mir deine Hände.«
Sie öffnete die Augen und betrachtete das weiche, fein gewirkte Seil. »Das wird mich nicht aufhalten.«
»Ich habe es für den Fall gemacht, dass mich ein wütender Oger besuchen will. Gib mir deine Hände.«
Sie schwieg einen Moment, dann legte sie die Jacke ab und hielt mir die Handgelenke hin.
Ich ließ das Seil darauf fallen und flüsterte: »Manacus.«
Es war schon sechs Monate her, seit ich das Seil mit einem Spruch ausgestattet hatte, doch er funktionierte zum Glück noch. Ein bloßes Flüstern reichte aus, damit das Seil erwachte. Es wand sich in der Luft, die Silberfäden blitzten, und dann wickelte es sich um ihre Handgelenke.
Susan reagierte sofort, verspannte sich und wehrte sich gegen die Fesseln. Ich wartete eine ganze Weile, bis sie zu zittern begann und den Widerstand aufgab. Erschüttert atmete sie aus und senkte den Kopf, die Haare fielen ihr vors Gesicht. Dann stand sie auf, stellte sich breitbeinig hin, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und versuchte es mit erhobenen Armen noch einmal.
Ich leckte mir nervös über die Lippen und beobachtete sie. Eigentlich war ich sicher, dass sie das Seil nicht zerreißen konnte, doch es wäre nicht das erste Mal, dass ich jemanden unterschätzte. Ihr Gesicht und ihre viel zu dunklen Augen machten mir Angst. Wieder wehrte sie sich gegen die Fesseln. Dabei rutschte ihre Bluse hoch, und ich sah ihren glatten braunen Bauch, auf dem sich die gewundenen Figuren und Zacken der Tätowierung grellrot abhoben. Auf den Rippen hatte sie dunkle Prellungen, an einigen Stellen war die Haut abgeschürft. Offenbar hatte sie den Sprung aus dem Wagen doch nicht ganz unbeschadet überstanden.
Nach einer Weile atmete sie zischend aus und setzte sich, wieder fielen ihr die Haare wirr vors Gesicht. Ich spürte ihren Blick eher auf mir ruhen, als dass ich ihre Augen tatsächlich sah. Es waren nicht mehr Susans Augen. Blutrot hoben sich die Tätowierungen von ihrer Hand ab. So ruhig und langsam wie vorher entfernte ich mich noch einmal von ihr und holte den Verbandkasten aus dem Bad.
Als ich zurückkam, stürzte sie sich blitzschnell und lautlos auf mich. Damit hatte ich jedoch gerechnet. »Forzare!«, rief ich.
Das silberne Seil sprühte blaue Funken und schoss zur Decke hinauf. Dabei zog es ihre Handgelenke mit, bis Susan vom Boden abhob. Schweigend pendelte sie unter der Decke und wehrte sich abermals gegen die Fesseln. Sie konnte sich nicht befreien, und ich ließ sie dort hängen, bis ihre Beine sich wieder beruhigt hatten. Mit den Zehenspitzen berührte sie gerade eben den Boden.
Nun schluchzte sie leise. »Es tut mir leid, Harry, ich kann es nicht länger unterdrücken.«
»Schon gut, ich habe dich jetzt festgesetzt.« Dann untersuchte ich ihre Verletzungen und zuckte zusammen. »Mein Gott, du bist ja völlig zerfetzt.«
»Ich will das alles nicht, bitte verzeih mir.«
Es tat mir weh zu hören, wie sie sich quälte. Das war mehr als genug Schmerz für uns beide. »Still«, sagte ich. »Lass mich deine Wunden versorgen.«
Dann verstummte sie, obwohl ich immer noch spüren konnte, wie hin und wieder der animalische Hunger in ihr erwachte. Ich holte eine
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