Silberlinge
ganz gut zwischen den Zeilen lesen.«
»Also gut«, sagte ich. »Die Erklärung ist etwas kompliziert.«
»Sie lassen nicht locker, was?«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage.«
»Dann hören Sie jetzt auf«, sagte Murphy. »Je weniger Sie mir sagen, desto weniger kann ich bezeugen.«
Bezeugen? Teufel auch. Es sollte doch Regeln geben, dass niemand mehr als drei juristischen Sprengsätzen gleichzeitig ausweichen muss. »Die Situation ist extrem gefährlich«, sagte ich. »Wenn normale Cops eingreifen, als wären es ganz normale Verbrechen, dann werden sie umkommen. Ich würde mir sogar Sorgen machen, wenn es die Sondereinheit wäre.«
»Gut«, sagte Murphy betreten. Sie trank einen großen Schluck Bier und stellte die Flasche auf den Kaminsims. Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter, und sie brach mir nicht das Handgelenk. »Es sieht jetzt schon ziemlich übel aus. Ich habe so eine Ahnung, dass es sehr bald noch schlimmer werden könnte. Mir bleibt nichts anderes übrig.«
»Ich weiß«, erwiderte sie. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen.«
»Haben Sie die Informationen über das Handy bekommen?«
»Nein«, antwortete sie, doch gleichzeitig gab sie mir einen zusammengefalteten Zettel. Als ich ihn auffaltete, erkannte ich Murphys Druckbuchstaben: Quebec Nationale, Inc, Besitzer. Keine Telefonnummer. Adresse ist ein Postfach. Sackgasse.
Wahrscheinlich eine Briefkastenfirma, überlegte ich. Die Kirchenmäuse haben sie vermutlich eingerichtet, um auf diesem Wege ihre Ein- und Verkäufe abzuwickeln. Vielleicht stammte der tote Gaston gar nicht aus Frankreich, sondern aus Quebec.
»Kapiert. Danke, Murph.«
»Ich weiß nicht, was Sie da reden.« Murphy schnappte sich die Jacke, die sie auf mein Sofa geworfen hatte, und zog sie an. »Bis jetzt gibt es noch keinen Haftbefehl gegen Sie, aber ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig.«
»Ich bin die Vorsicht in Person.«
»Ich mein’s ernst.«
»Ernste Sache, ja.«
»Verdammt, Harry.« Diesmal lächelte sie wenigstens.
»Wahrscheinlich wollen Sie nicht, dass ich Sie anrufe, wenn ich Hilfe brauche.«
»Bestimmt nicht, denn das wäre illegal. Bleiben Sie sauber, und tun Sie nichts Verbotenes.«
»Okay.«
Sie dachte kurz nach. »Ich glaube nicht, dass ich Sie, abgesehen vom Sommer, jemals ohne Ihren Mantel gesehen habe. Wo ist er?«
Ich schnitt eine Grimasse. »Nicht vom letzten Einsatz zurückgekehrt.«
»Oh. Haben Sie schon mit Susan gesprochen?«
»Ja.«
Murphy deutete meine Miene richtig. »Es tut mir leid, Harry.«
»Danke.«
»Bis bald.« Die Hand an die Dienstwaffe gelegt, öffnete sie die Tür und ging vorsichtig hinaus.
Als sie fort war, lehnte ich mich von innen an die Tür. Murphy machte sich Sorgen, sonst wäre sie nicht persönlich vorbeigekommen, um mich zu warnen. Außerdem hatte sie strengstens darauf geachtet, nichts Illegales zu tun. War die Lage bei der Polizei wirklich so heikel?
Murphy war die erste Leiterin der Sondereinheit, die nicht nach der Probezeit oder drei unlösbaren Fällen wieder hinausgeworfen worden war. Wenn der Polizeipräsident jemanden loswerden wollte, übertrug er ihm gewöhnlich die Leitung der Sondereinheit oder einen anderen Posten in der Abteilung. Jeder Cop, der dort arbeitete, hatte irgendetwas auf dem Kerbholz und war wegbefördert worden. Dadurch war unter den Beamten der Sondereinheit ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl entstanden, das nur noch stärker wurde, wenn sie hin und wieder irgendwelchen alptraumhaften Wesen begegneten.
Die Cops der Sondereinheit hatten mehrere bösartige, finstere Sprüchewirker, ein halbes Dutzend Vampire, sieben oder acht tobende Trolle und einen Dämon aus dem Verkehr gezogen, der sich hinter einem Pfandleihhaus in Chinatown aus einem Komposthaufen erhoben hatte. Sie kamen ganz gut zurecht, weil sie vorsichtig waren und gut zusammenarbeiteten. Sie wussten, dass es übernatürliche Geschöpfe gab, die man nicht immer streng nach Vorschrift behandeln konnte. Außerdem stand ihnen hin und wieder ein Magier als Berater zur Verfügung. Ich bildete mir ein, dass auch ich meinen Beitrag geleistet hatte.
Aber in jedem Obstkorb gibt es einen faulen Apfel. In Murphys Sondereinheit war Detective Rudolph der Stinkstiefel. Rudy war jung, sah gut aus, rasierte sich ordentlich und hatte mit der Tochter des falschen Stadtrats geschlafen. Trotz seiner Begegnungen mit Monstern, Magie und Mitmenschlichkeit verleugnete er seine Erfahrungen mit erstaunlicher Hartnäckigkeit und
Weitere Kostenlose Bücher