Silbermuschel
Schluß.
»Isami!«
»Ja?« fragte er leise, als ob der Name ihm galt.
»Ist sie wirklich deine Schwester?«
Er fuhr fort, mein Haar zu streicheln. Sein Blick glitt an mir vorbei in die Ferne.
»Ich war bei ihr, als sie starb. Vor fünfzehn Jahren, in einer Septembernacht.
Ich nahm Isami in mir auf, und sie wurde meine Lehrerin. Das wenige, das ich lernte, hat sie mir beigebracht.«
»Wie kommt es nur, daß wir uns begegnet sind?«
»Ich weiß es nicht. Die Toten sehen da klarer und senden uns Zeichen. Isami führte uns zusammen, durch Raum und Zeit. Sie warf mit zarter Hand zwei Fäden auf, spinnwebfein, und machte daraus eine Zauberkraft, die uns vereinte. Die Fäden sind jetzt geknüpft. Für immer.«
»Hattest du keine Angst?«
»Doch. Ich war nicht darauf vorbereitet. Unser Herz kennt im stillen die alten Geheimnisse. Aber unsere Vernunft will in Worten wissen, was die Seele längst weiß. Isami sagte mir oft: ›Alles ist rund, Kenchan. Das Leben ist ein Kreis, es gibt weder Anfang noch Ende.‹ Dabei gingen mir viele Gedanken durch den Kopf. Mir war schleierhaft, warum sie das sagte. Später erzähltest du mir von dem Kastanienbaum und dem Fuchs, was mich ziemlich verwirrte. Ich dachte: Moment mal, da stimmt was nicht, diese Dinge kenne ich doch auch! Irgendwann mußte ich 267
davon geträumt haben, und Isami hatte eine Geschichte daraus gemacht. Doch während ich dir zuhörte, da gab es in mir einen Zeitschub, so ungefähr wie ein Rad, das sich blitzschnell zurückdreht. Ich wußte auf einmal, daß es kein Traum gewesen war, sondern daß ich diese Geschichte tatsächlich erlebt hatte.«
»Wann?«
»Vor sehr langer Zeit. Isami war dreizehn, ich neun Jahre jünger. Aus einem ganz bestimmten Grund hatte uns die Mutter allein gelassen. Irgendwie entkam ich Isamis Aufmerksamkeit und machte mich auf die Suche nach meiner Mutter. Da erlebte ich etwas Merkwürdiges; ein unheimliches Wunder möchte ich sagen, auch wenn ich es damals nicht so empfunden habe. Isami hatte mich überall gesucht. Sie fand mich gerade in dem Augenblick, da es passierte. Bald nachher wurde ich krank, und als ich wieder gesund war, hatte ich die Sache vergessen. Aber Isami behielt sie im Gedächtnis, wie alles andere auch. Dann kam ich der Sache näher.
›Also, Kenchan, bist du ein wenig klüger geworden?‹ fragte sie mich daraufhin.
Ich antwortete ihr: ›O-Neesan, mir wird endlich klar, warum du diese Geschichte geschrieben hast.‹ Ich hörte, wie sie lachte. ›Dann weißt du auch, warum du noch am Leben bist.‹«
Ich starrte ihn an. Ich hatte ein trockenes Gefühl im Mund.
»Das verstehe ich nicht. Du sagtest doch, sie sei tot…«
Er lächelte, wenn auch nur flüchtig.
»Ich rede oft mit ihr, weißt du. Für mich ist das nichts Ungewöhnliches. Ich will versuchen, es dir zu erklären. Der Totenkult gehört zur japanischen Tradition.
Wir glauben daran, daß wir die Seele eines Verstorbenen, der uns besonders nahestand, zurückholen können. Sachlich ausgedrückt: Der Verstorbene wird zum Ideal, den der Lebende zu verkörpern sucht. Dabei handelt es sich um einen durchaus bewußten, kontrollierten Vorgang. Auf der Suche nach dem Toten versinkt der Lebende in sich selbst, wie in einen Abgrund. Er stürzt von Tiefe zu Tiefe durch alle Zeiträume des Lebens und sieht sich wieder als Kind neben der schützenden Gestalt. Auf diese Weise habe ich Isami zu mir geholt, sie hat mich zu sich gezogen. Es gibt da ein Gedicht, das ziemlich genau ausdrückt, was ich meine: Du, die mir innewohnt, du Dunkle, Helle,
Durch meines Lebens Haus weht deine Spur…
Vielleicht habe ich es falsch zitiert«, sagte er wie zu sich selbst.
Ich schüttelte leicht den Kopf. Das alles war nichts Neues für mich. In meinem Geist kreiste etwas, dem ich keinen Namen zu geben vermochte. Dann aber stockte mir der Atem in der Kehle: Ich wußte Bescheid.
»So war es auch mit Manuel! « flüsterte ich.
Ein Funke blitzte in seinen Augen auf. Er lächelte sein schönes, warmes Lächeln.
268
»Ah, wakkaterune?« murmelte er. »Ich sehe, du hast verstanden. Mon Amie la Rose… «, setzte er hinzu, mit einer Zärtlichkeit, die mir das Herz einschnürte.
Ich schluckte so schwer, daß er es hörte.
»Vielleicht eignen wir uns besonders dazu. Ich weiß es nicht…«
»Ich glaube«, sagte er, »daß wir uns ähnlich sind. Holt man die Vergangenheit herauf, ist es, als schaue man in einen dunklen Wirbel, dessen Mitte sich immer weiter abwärts dreht. Tief
Weitere Kostenlose Bücher