Silbermuschel
unten wird er klar wie Kristall, und man sieht sein eigenes Ebenbild. Vielleicht sollte ich dir einiges von mir erzählen.«
Ich streichelte seine Wange.
»Sage nichts, wenn du nicht willst.«
Er drehte meine Handfläche um und küßte sie. In seinen Zügen war immer noch diese Zärtlichkeit, von einem halben Lächeln begleitet.
»Doch. Ich will es.«
»Und Isami?«
Ein Seufzer hob seine Brust.
»Dir begegnete das Böse in Gestalt eines Menschen; Isami erlebte es als Wolkenbild über einer Stadt. Sie sah, wie Eisen zerbrach, wie es schrie und stöhnte und verwundbar wurde wie Fleisch. Wie Blei zu Asche wurde, wie menschliche Hautfetzen vom Himmel fielen und Türme in die Wolken stiegen. Isamis Bewußtsein kämpfte gegen ein solch entsetzliches Grauen, daß allein dieses Grauen sie vor dem Wahnsinn bewahrte, wie ein Insekt, das unbeschadet durch einen Orkan fliegen mag. Doch ihr eigener Geist war zu redlich, um nicht in allen Menschen Gotteskinder zu sehen. Sie zog sich in die Friedlichkeit zurück, ein wunderbarer Hort der Seele. Sie hatte in irgendeiner Form von kranken Zeiten zu berichten. Sie tat es, indem sie nur die schönen Dinge malte und die guten Worte schrieb. Sie glaubte, daß es sinnvoller sei. Eine notwendige Utopie…«
Ich bewegte mühsam die Lippen.
»Wie du willst, daß es geschehe, so geschieht es auch…«
Meine Stimme klang rauh. Er schloß mich enger in die Arme.
»So de su. So ist es! Wir beten: Und erlöse uns von dem Übel. Aber das wäre zu einfach, findest du nicht auch? Kein Gott nimmt uns diese Verantwortung ab.
Wir können nichts daran ändern, daß es nur auf uns selbst ankommt. Das Böse kann niemals tiefer fallen als das Niedrigste, das in uns steckt. Vieles in uns ist noch Mensch, und vieles in uns ist noch nicht Mensch. Damit müssen wir uns abfinden.«
»Komm näher!« flüsterte ich. »Ganz nahe!«
Ich schob sein T-Shirt hoch, umfing mit beiden Armen seine nackte Brust. Sein Atem strich über mein Haar, ich fühlte seine Schlagader pochen. Seine Haut schmeckte ganz leicht nach Zimt. Die Nähe und Wärme seines pulsierenden Lebens erfüllte mich ganz. Wer bist du? dachte ich. Wo kommst du her? Womit habe ich dich verdient? Ich sehe dich mit geschlossenen Augen. Ich höre dich, 269
auch wenn du schweigst. Du trägst mich in deinen Armen, du wiegst mich in den Schlaf. Du hast mich zu deinem Kind gemacht und mich mit mir selbst vereint.
»Ken… was für einen Tag haben wir eigentlich?«
»Ich weiß es nicht. Dienstag, nehme ich an. Warum?«
»Weil heute mein Flugzeug geht! «
»So? Dann sollten wir allmählich frühstücken.«
Ich drückte die Augen ganz fest zu, schmiegte mein Gesicht in die Beuge zwischen seinen Schultern und dem Hals.
»Ist was?« fragte er, als ich schwieg.
»Nein, nein. Nichts, gar nichts…«
»Ich habe dir gesagt, du bleibst bei mir.« Kens Stimme hatte nichts von seiner Ruhe eingebüßt. »Du gehst erst dann in die Schweiz zurück, wenn du dazu bereit bist. Wir sagen deinen Flug ab und holen dein Gepäck. Dann besuchen wir Tetsuo im Krankenhaus, ich habe ihm versprochen, zu kommen. Und dann fahren wir los.«
»Wohin?«
»Nach Sado.«
Er bog meinen Kopf nach hinten, flocht seine Finger in mein Haar. Ich schlug die Augen auf.
»Mit dem Motorrad?«
»Warum nicht? Der Wetterbericht ist gut. Wir haben genügend Zeit. Wenn es dir zu anstrengend wird, lassen wir die Maschine einfach stehen und fahren mit dem Zug. Ich hole sie dann später.«
»Und Franca?«
»Glaubst du nicht, daß sie alt genug ist, um allein zu reisen?«
Er zog mich hoch, und ich taumelte gegen ihn mit weichen Knien. Er steckte lachend sein T-Shirt wieder in den Gürtel, zog die Yukata züchtig über meine Brust, knotete die Schärpe zu. Ich schob die Schiebetür auf, ging in den Baderaum und war im Geist noch in Kens Armen, hingerissen und wie im Traum. Ich wusch mich, zuerst warm, dann kalt, auch die Haare, alles. Immer wieder ließ ich das Wasser plätschern, beobachtete den Strahl, der wie ein Silberschleier über meine Haut flutete, bis ich vor Freude aufstöhnte. Das Wasser befreite mich, wusch mich rein von allem Übel, die Schlacken der Vergangenheit fielen von mir ab, flossen schäumend weg, gurgelten in den Ausguß hinunter. Mein Körper war wach und ungestüm. Ich drehte das Wasser ab, schüttelte mich. Dann ging ich in den Vorraum zurück, trocknete mich ab, während ich mich im Spiegel betrachtete und langsam neue, frische Wäsche anzog. Als ich mein Haar
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