Silbermuschel
kämmte und die obere, hellere Stirnhälfte freilegte, bemerkte ich zum erstenmal, wie wenig mein Gesichtsausdruck mit meinem Alter im Einklang stand. Es war der Ausdruck eines Kindes: verträumt und voller Melancholie, unfähig zu Beistand und Hilfe. Mein Mund verriet manchmal für Sekunden eine seltsame Härte, fast eine Heimtücke, 270
die mich erschreckte. Zu viele Jahre waren über mich hinweggeglitten, ohne daß ich lernte, zu lieben. Ich war fort gewesen, so schmerzhaft weit fort, daß ich gar nicht mehr wußte, wie es ist, jemandem nahe zu sein. Ich reagierte nur dankbar darauf, wenn ich glaubte, daß man mich mochte.
Das alles war so gekommen, weil… Nein, nicht nur deswegen. Viel schlimmer waren die anderen Dinge, die schrecklichen. Wie kam es nur, daß Ken sich nicht davor fürchtete? Daß er mir alles Schwere von den Schultern nahm, daß er mich beruhigte und sagte, es gibt nichts in dir, worüber du dich zu schämen brauchst.
Ich wußte kaum etwas von ihm. Ich kannte nur seinen Körper und wie er damit umging, um mir Lust zu verschaffen. Mit mehr Zärtlichkeit und Suchen und Wissen, als ich es je für möglich gehalten hatte. Und indem er mir auf diese Weise etwas von seinem Leben abgab, erweckte er in mir das Gefühl des Lebendigseins.
Etwas Neues wurde geboren: die Gewißheit, daß auch ich etwas von dem geben konnte, was in mir lebendig war.
Ach, es war höchste Zeit, mon amour! Endlich dringe ich aus meiner Selbstsucht wie aus der dunklen Erde. Ich bin eine Pflanze, die endlich Frucht bringt. Die Blätter fallen ab, die Pflanze welkt, nur die reifende Frucht bricht hervor. Watashi anataga daisuki. Die Worte pulsieren in meinen Adern wie Pflanzensaft, sie wachsen aus mir heraus mit jedem Atemzug und jedem Herzschlag.
Als ich etwas später ins Zimmer trat, waren die Futons schon weggeräumt.
Zwei Tabletts mit mehreren Schüsseln standen auf dem Tisch. Ken stand am offenen Fenster. Er wandte sich mir zu, den Abglanz eines starken Glücksgefühls auf seinem Gesicht. Er hob beide Arme, warf sein Haar hoch, wie er es oft tat, und wies grinsend auf den Tisch.
»Frühstück auf japanisch! Bei Akikosan gibt es nichts anderes. Manche Leute tun sich schwer damit, sogar ich. Aber ich habe Kaffee dazu bestellt.«
Wir setzten uns nebeneinander. Es gab Reis mit getrockneten Fischflocken, verschiedene Gemüsesorten in kleinen Schalen. Dazu eine köstlich schmeckende Miso-Suppe und für jeden ein Stück Räucherfisch. Ken zeigte mir, wie das Gemüse mit Sojasoße und einem rohen Ei in einer Schale vermischt wurde.
»Gut?« fragte er zweifelnd.
»Mir schmeckt es!« erwiderte ich.
»Da wird sich Akikosan aber freuen. Ich esse morgens lieber Rührei mit Toast.«
Ich lachte. Er lehnte sich auf den Ellbogen zurück, um mich anzuschauen.
»Es tut gut, dich lachen zu sehen. Darauf warte ich schon lange, daß du mal so richtig loslachst.«
Er goß mir Kaffee ein, reichte mir die Tasse über den Tisch. Ich nahm einen Schluck, drehte die Tasse an meiner Wange hin und her.
»Du bist mal wieder mit den Gedanken weit weg«, stellte Ken fest.
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»Ja. Bei Bruno.«
»Willst du nicht zuerst deinen Kaffee austrinken?«
»Ich werde ihm mitteilen, daß ich mich scheiden lassen will. Ich kenne einen Rechtsanwalt in Lausanne. Er soll die Scheidungsklage für mich einreichen. Ich weiß allerdings nicht, wie ich es schaffen werde. Finanziell, meine ich.«
»Hör auf, dir Sorgen zu machen!« sagte Ken. »Geld hat mich nie interessiert, aber den Anwalt meiner Frau werde ich wohl noch bezahlen können. Laß deinen Ex auf seinem Geld verrosten. Du verlangst nichts von ihm und gehst – fertig.«
Ich lächelte wieder, diesmal nur mit halbem Herzen. Es gab noch eine Frage, die ich stellen mußte. Ich stellte sie zögernd, fast bange.
»Du sagtest… du hast eine Freundin.«
Sein Gesicht zog sich leicht zusammen. Etwas wie ein ferner Kummer schimmerte in seinen Augen. Doch seine Stimme klang völlig ruhig.
»Ja. Wir werden es ihr sagen.«
»Wird sie es verstehen?«
Er zögerte einen Augenblick, die Tasse an den Lippen.
»Ich denke, ja.«
»Wie heißt sie?«
Er starrte vor sich hin.
»Mitsue«, sagte er.
»Ist sie hier in Tokio?«
»Nein, auf Sado. Sie ist Asanos Tochter, was die Sache ein bißchen kompliziert macht.«
Ich fühlte, wie meine Hände zitterten, und stellte behutsam die Tasse hin. Der Kaffeelöffel fiel auf die Matte. Ken hob ihn auf und legte ihn auf die Seite.
»Lebst du mit ihr
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