Silbermuschel
dumpf sagen. »Zum Glück ist sie erst neunzehn. Das hilft.«
Hilft das wirklich? Das müßtest du doch verstehen, daß es nicht so leicht geht.
Komm, ich weiß genau, es wird dir schwerfallen, von ihr zu lassen.
»Es ist für mich schrecklich«, sagte ich, »daß du zu dieser Entscheidung gezwungen wirst, bloß weil ich da bin.«
»So ist es auch wieder nicht. Ich habe Mitsue nie etwas versprochen.«
»Du könntest Kompromisse schließen…«
Er schmiegte sein Gesicht an das meine.
»Nein. Das ist nicht meine Art. Ich sehne mich so danach, dir ganz zu gehören, daß ich es kaum erwarten kann. Diese Tatsache mußt du in Kauf nehmen. Alles andere wäre Betrug.«
Einen Atemzug lang starrten wir einander an, bevor unsere Lippen sich berührten, zuerst scheu, fast zaghaft, dann mit einer Leidenschaft, die uns den Atem raubte. Wer konnte gegen so viel Ausschließlichkeit die Oberhand gewinnen? Jeder spürte die Seele des anderen, spürte sie durch die Kleider, durch die Haut, durch Knochen und Blut. Wir hielten einander umarmt, küßten uns mit geschlossenen Augen, damit wir uns noch enger, noch näher fühlten, bis kein Raum mehr zwischen unseren Körpern frei war und wir wieder dieses unwirkliche Gefühl hatten, gemeinsam zu schweben. Wir fühlten eine fast verzweifelte Zärtlichkeit, einen selbstlosen Willen, niemanden traurig zu machen, niemanden zu verletzen. Wenn Mitsue leiden müßte, würden wir auch leiden. Wie könnte es 274
anders sein? Wir waren keine Heuchler, und diesen Schmerz hatten wir ja selbst gewählt. Es war schon so, daß wir nicht zuviel an sie denken wollten.
Etwas später wurde hinter der Tür ein schleifendes Geräusch hörbar. Ken hielt meine Schultern umfaßt, während er einige Worte auf Japanisch sagte. Die Schiebetür glitt auf. Draußen kniete Akikosan auf dem glänzenden Holzfußboden.
Über ihrem blaugrau gemusterten Kimono trug sie eine weiße, kurze Kittelschürze.
Ihre wiederholten Verbeugungen wirkten sehr förmlich, doch ihre Augen lächelten verschmitzt; es war klar, daß sie sich ihren Teil dachte. Sie räumte das Frühstücksgeschirr ab, und Ken ging mit ihr, um die Rechnung zu bezahlen. Als er nach ein paar Minuten ins Zimmer zurückkehrte, war ich fertig angezogen. Wir gingen durch den Flur, fanden unsere Schuhe am Eingang wieder. Akikosan begleitete uns bis zur Haustür und verneigte sich zum Abschied, während wir durch den Vorgarten gingen. Ich blieb blinzelnd im Sonnenlicht stehen, betrachtete das schlichte, verwitterte Holzhaus mit den blinden Fensterscheiben. Ich nahm alles sehr aufmerksam wahr; dann schweifte mein Blick zu Ken hinüber. Seine Hand schloß sich fester um meine Schulter. Wir tauschten ein Lächeln. Ich neigte den Kopf, berührte seine Hand flüchtig mit meinen Lippen. Dann gingen wir weiter. Ken zog hinter uns das niedrige Tor zu. Das Motorrad stand da, wo er es abgestellt hatte. Ken reichte mir den Sturzhelm. Ich stieg hinter ihm auf, und er setzte die Maschine in Gang. Warmer Wind blies durch die Straßenschluchten.
Ken schlängelte sich geschickt durch den Morgenverkehr. Ich hielt seine Taille umfaßt; wenn wir an einem Rotlicht hielten, preßte er meinen Arm eng an sich.
Eine halbe Stunde später parkte Ken unweit der Büros der Lufthansa, im Kasumigaseki-Viertel. Ich gab Ken meinen Flugschein und ließ ihn mit dem japanischen Beamten die Sache erledigen. Ich kündigte meinen Flug; mein Ticket wurde auf »open« umgeändert. Man machte mich darauf aufmerksam, daß ich für mehr als sechs Monate in Japan ein besonderes Langzeitvisum benötigte. Ken blinzelte mir zu. »Laß das nur meine Sache sein! «
Ein paar Minuten später gingen wir zum Motorrad zurück. Wir hielten uns an der Hand und liefen über die Straße, übermütig wie Halbwüchsige. Dann wieder eine Fahrt von zwanzig Minuten. Dann Shinjuku. Das Hotel. Die Halle mit ihren Säulen, ihrem glänzenden Marmorfußboden. Mit einem seltsamen Gefühl der Unwirklichkeit ging ich an die Rezeption, verlangte meine Rechnung und fragte nach Franca. Sie war nicht in ihrem Zimmer. Ich blickte Ken an.
»Geschenke in letzter Minute wahrscheinlich. Oder sie ist mit Charles essen gegangen. Der Bus zum Flughafen fährt um drei.«
»Dann haben wir ja genügend Zeit«, sagte Ken.
»Sie fragt sich bestimmt, wo ich stecke.«
»Sie wird so ihre Vermutungen haben.«
In seltsam euphorischer Stimmung wartete ich neben Ken auf den Aufzug. Ich stand dicht an ihn gelehnt, fühlte seine Schultern, seine
Weitere Kostenlose Bücher