Silbermuschel
Hüften. Ich hatte das 275
ständige Bedürfnis, ihn zu berühren, wie um mich zu vergewissern, daß er Wirklichkeit war und kein Traum. Mein Zimmer im elften Stock wirkte seltsam unbewohnt. Das Bett war gemacht. Die paar Sachen, die ich dagelassen hatte, kamen mir fremd vor. Ich hatte kaum das Gefühl, daß sie mir gehörten. Ken schob seine Turnschuhe von den Füßen, drehte das Türschloß zu. Er ging zum Bett, grinste und hob etwas hoch: seinen Slip, gewaschen und gebügelt. Wir sahen uns an und lachten. Ken nahm meine Hand, hob sie an seinen Mund. Seine Zähne glitten leicht über meinen Handrücken. Dann drehte er die Hand um, küßte die Handfläche, berührte sie mit der Zungenspitze. Seine Lippen glitten weiter, an den Pulsadern entlang. Ich stöhnte leise; wieder spürte ich in mir das süße, pulsierende Flackern. Doch plötzlich merkte ich, wie er erstarrte. Seine Lider zogen sich zusammen; es war, als ob er etwas spürte, das mir entging, eine fremde Vibration, die über mich hinwegflatterte. Er trat einen Schritt zurück, streichelte ganz leicht meine Wange.
»Die Kassette… wo ist sie?«
Sekundenlang stockte mir der Atem. Wie ein Stein stand ich da. Mein Herz setzte aus und schlug dann so fest, daß es schmerzte. Die Kassette, natürlich. Ich hatte nicht mehr daran gedacht. Jetzt wünschte ich, in den Boden zu versinken oder mich in Luft aufzulösen. Meine Stimme klang dumpf, fast tonlos.
»In meiner Tasche.«
»Gib sie mir«, sagte er.
Ich fuhr zusammen, als hätte er mich geschlagen. Ich fühlte heiße Röte erst in den Ohren, dann im ganzen Gesicht. Das war es, wovor ich mich am meisten gefürchtet hatte. Vergeblich redete ich mir ein, daß sein Wunsch berechtigt war.
Daß es sogar besser wäre, wenn er die Kassette zu sich nähme. Schon möglich, daß die Neugierde bei ihm eine Rolle spielte. Also gut! Sollte er sich den Film anschauen, wenn er unbedingt wollte. Nur eines durfte er nicht von mir verlangen: daß ich dabei war. Alles, nur das nicht. Ich würde ihm niemals mehr in die Augen schauen können.
Nicht nur mein Gesicht, nein, auch mein Zwerchfell glühte. Er jedoch betrachtete mich gleichmütig. Ich bemerkte um seinen Mund ein kaum angedeutetes Lächeln. Daß ich mich weigern könnte, schien ihm nicht einmal in den Sinn zu kommen. Oder doch? Es war schon so, daß er in meinen Gedanken las.
Alle konnte ich täuschen, nur nicht ihn. Und während ich ihn anblickte, wich die Furcht aus meiner Brust. Die Spannung zog sich aus mir zurück wie eine Sommerwolke. Eine neue Ruhe erfüllte mein Herz, und ich dachte: Was soll diese Angst? Er wird mir niemals etwas Böses antun.
Ich holte tief Luft. Dann wandte ich ihm den Rücken zu, öffnete den Reißverschluß meiner Tasche. Die Kassette lag unten zwischen zerknitterten Sachen. Ich zog sie heraus und reichte sie ihm, ohne ein Wort. Er nahm sie, und er nahm auch die Streichhölzer, die neben dem Aschenbecher auf dem Nachttisch 276
lagen. Dann ging er ans Fenster, schob es seitwärts auf. Der Lärm der Straße drang gedämpft durch die Mittagshitze. In fassungslosem Staunen sah ich zu, wie er mit ein paar geschickten Griffen den Zelluloidstreifen aus der Kassette zog und herausriß. Er hielt das Band nach draußen, zwischen zwei Fingern, zündete ein Streichholz an und hielt es dicht an das Zelluloid. In Sekundenschnelle schoß die kleine Stichflamme nach unten. Ken ließ das Band los; ich sah es durch die Luft fliegen, wie eine schmale Feuerschlange sich im blauen Sonnenschein krümmen und winden. Dann erlosch die zuckende Feuerspirale, zerschmolz zu schwarzen Aschefetzen, die der Wind emporwirbelte und zerstreute, ich folgte ihnen mit den Augen; ein paar Atemzüge später waren sie verschwunden, in Nichts aufgelöst. Da erst wandte sich Ken nach mir um. Meine Augen waren heiß und feucht.
»Nun?« sagte er sanft. »Bist du jetzt ganz beruhigt?«
Ich spürte Tränen unter meinen Lidern hervorkommen. Eine Weile stand er neben mir, blickte stumm auf mich herab. Dann umfaßte er meinen Nacken, zog mich an sich und kraulte mein Haar in stummer, mitfühlender Zärtlichkeit. Ich zitterte noch von der ausgestandenen Angst und staunte über sein Einfühlungsvermögen wie über ein Wunder.
»Ich dachte…«
Weiter kam ich nicht, er beendete den Satz.
»… daß ich mir die Kassette ansehen wollte? Nein, danke! Ich bin nicht so leichtfertig, zu behaupten, daß die Dinge unbeseelt sind. Sind die Dinge von bösen Kräften erfüllt – weg damit!
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