Silbermuschel
folgte dem Faden der Ariadne, stieg tiefer in das Dunkel hinein. Er überquerte den Strom der Tränen, ließ keine Schwäche zu. Ich wich nicht von seiner Seite und hielt die Lampe hoch.
»Mein Vater tat also das, was man seine Pflicht nannte. Nicht allzu lange: Ein paar Granatsplitter bohrten sich in seinen Rücken, einer in seinen Kopf. Ein Krankentransport brachte ihn nach Japan zurück. Eine Zeitlang lag er zwischen Leben und Tod. Schließlich besserte sich sein Zustand, obwohl sein linker Arm teilweise gelähmt blieb. Allmählich konnte er wieder gehen, litt jedoch unter plötzlich auftretenden Gleichgewichtsstörungen. Zynisch betrachtet, konnte er von Glück reden. Die Soldatenpflicht hatte er hinter sich, er konnte zu keiner Schwerarbeit eingezogen werden und bezog eine bescheidene Rente. Die finanzielle Lage meiner Eltern wurde jedoch immer prekärer. Die Ersparnisse waren schnell aufgebraucht, das Geld wurde ja laufend entwertet. Sie lebten von Kenjis Invalidenrente und der Unterstützung der Großeltern. Ein glücklicher Zufall hatte bewirkt, daß sie in ihrem Viertel eine passende Schule für Isami fanden. Ganz in der Nähe ihres Hauses lebte eine sehr begabte Erzieherin, die Kinder nach Maria Montessoris Methode unterrichtete. Sie und ihr Mann hatten eine kleine Privatschule, zu der einige fortschrittliche Familien ihre Kinder trotz der Kriegsentbehrungen schickten. Beide Erzieher bemühten sich nach Kräften, den Schülern ein Gefühl der Unbeschwertheit und Geborgenheit zu vermitteln. Isami muß ein sehr in sich gekehrtes Kind gewesen sein. Sie konnte stundenlang vor einem Spiegel sitzen und Selbstgespräche führen. Oder unaufhörlich rund um den kleinen Garten laufen, mit wehenden Ärmeln und klappernden Holzsandalen.
Manchmal kletterte sie auf die alte Kiefer vor dem Haus, so leicht, als wöge sie nur so viel, wie man im Traum wiegt, und saß in den Zweigen, das Gesicht himmelwärts gerichtet, ruhig wie ein schlafender Vogel. Sie war von schneller Auffassung, beobachtete scharf und lernte fließend lesen in einem Alter, da andere Kinder mühsam die ersten Schriftzeichen entziffern.
Wie schwer für Mayumi das Leben in dieser Zeit gewesen sein mußte, kann ich nur ahnen. Eine Kosmopolitin wie sie mußte den Krieg als hassenswerten Rückschlag in einen engstirnigen, barbarischen Zustand angesehen haben. Sie war fünfzig Jahre zu früh geboren worden. Mayumi wußte, daß nichts von ewiger Dauer ist. Auch der Krieg war nur eine vorüberziehende Wolke. So hielt sie durch, steckte Schläge ein und ließ sich von der Furcht keineswegs einschüchtern. Sie wünschte sich ein zweites Kind, gerade in dieser Zeit. Es war nicht vernünftig, es war reiner Wahnsinn. Aber Mayumi wollte an die Zukunft glauben.
Ich wurde im Januar 1942 geboren. Die Entbindung fand zu Hause statt, weil alle Krankenhäuser von Verwundeten überfüllt waren. Mein Vater und eine 329
Hebamme waren anwesend. Meine Mutter lag ganz still in ihren Schmerzen, bleich, Schweiß auf der Stirn. Dieses Baby, das sie mit großer Anstrengung, aber auch wunderbar schnell aus ihrem Bauch herausgepreßt hatte, war ihre lebendige Liebe, ein Akt des Widerstands.
Eine Zeitlang war es in Japan ziemlich ruhig, weil die Amerikaner mit den Kämpfen auf den Philippinen beschäftigt waren. Doch bald rückte das Kriegsgeschehen näher: Die Amerikaner begannen, die japanischen Städte zu bombardieren. Ende November 1944 wurden die ersten Brandbomben über Tokio abgeworfen. Im Lauf der Monate wurden die Einsätze immer schwerer, die Geschwader umfaßten bald Hunderte von Bombern. Trotz wiederholten Fliegeralarms ging Isami zur Schule; viele Eltern behielten ihre Kinder daheim.
Mayumi jedoch hatte nicht den Mut, das kleine Mädchen von ihrem einzigen Vergnügen fernzuhalten, zumal die Schule nur einige Minuten vom Haus entfernt war.
Doch die Unruhe meiner Eltern wuchs. Sie wußten, daß die Stadt über zuwenig Luftschutzkeller verfügte. Diese bestanden zumeist aus Aushöhlungen, mit Brettern abgedichtet, über die eine dicke Erdschicht geschaufelt worden war.
Tokios Kanalisation war vorsintflutlich. Die Zivilschutzgruppen hatten an Zisternen Handpumpen angebracht. Um moderne Brandbomben zu bekämpfen, verfügten die Bewohner Tokios vorwiegend über nasse Strohmatten, Sandsäcke und Wassereimer, die man sich von Hand zu Hand weiterreichte. Mit kalter Berechnung benutzte unsere Militärclique die Luftangriffe, um die Leute – wie es hieß – ›moralisch
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