Silbermuschel
nachgedacht‹.
›Dann hast du deine Zeit nicht verloren‹.
Ich rutschte auf dem Sitzkissen hin und her und kämpfte mit mir selbst.
Schließlich deutete ich eine Verbeugung an.
›O-Neesan, ich glaube, ich habe einige Dummheiten gemacht. Domo sumimasendeshita – es tut mir leid.‹
Sie schmunzelte.
›Iß endlich deine Mandarine. Wer abends so dumm einschläft, wie er morgens aufgewacht, ist wirklich nicht zu retten. Ich habe dich nicht mit Vernunftsgründen geplagt, du hättest ohnehin keinen beachtet. Du solltest deine Erfahrungen machen.
Siehst du, Kenchan, Ideologien sind verwerflich. Lege deinem Verstehen niemals Ketten an. Werde frei, indem du dich selbst zum Vorbild nimmst. Und das da jetzt, das hattest du verdient, weil du mehr auf Marcuse gehört hast als auf deine eigene Meinung.‹
So sprach sie zu mir an jenem Abend, während sie Mandarinen für mich schälte. Ihre Worte sind mir noch heute klar im Gedächtnis. Etwas in mir war in Gang gesetzt worden. Ich hatte begonnen zu lernen.
Am nächsten Tag erklärte ich Isami, daß ich nach Abschluß meines Studiums Japan für eine Zeitlang verlassen würde. Ich wollte Europa kennenlernen, mich loslösen von allem, frei sein von mir selbst, von meinem hektischen Hin- und Hergerissensein zwischen diesem und jenem. Isami war sofort einverstanden.
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›Vielleicht findest du, was du suchst.‹
›Ich will nur weg von hier, das ist alles‹, sagte ich.
Und Isami erwiderte:
›Ja, das möchtest du gern glauben.‹«
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24. KAPITEL
»I m März war das Universitätsjahr zu Ende«, fuhr Ken fort. »Jetzt war ich diplomierter Betriebswissenschaftler der Universität von Tokio. Ein Abschluß cum laude, der Schlüssel zu einer steilen Karriere, auf die ich – wie man heute sagt –
null Bock hatte. Daneben hatte ich abends als Barkeeper gejobbt und das Geld für die Reise auf die Seite gelegt. Ich war ziemlich gestreßt. Immerhin wußte ich jetzt, wie man Cocktails mixt.
Am Tag vor meiner Abreise ging Isami mit mir zum Hanasono-Schrein. In einem hölzernen Pavillon verkauften einige Priesterinnen verschiedene Orakel und Talismane. Die jungen Frauen trugen ein weißes Übergewand mit Flügelärmeln, dazu einen karminroten Hosenrock. Ihr langes Haar wurde im Nacken mit einem Band aus Reisstroh zusammengehalten. Isami wollte, daß ich ein Orakel zog. Eine der Priesterinnen reichte mir einen hölzernen Zylinder, den ich mit beiden Händen schüttelte. Unten war eine Öffnung angebracht, aus der die Orakel herausfielen.
Meine tastenden Finger bekamen einen der zusammengerollten Papierstreifen zu fassen; ich zog ihn heraus. Ich verneigte mich dankend, gab der Priesterin den Zylinder zurück und faltete das Orakel auseinander. Orakel sind stets feierlich, wortreich in der Sprache und streng zeremoniell im Ton.
›Wer diesen Spruch zieht, soll nicht glauben, er könne durch bloßes Dasitzen den Weg erlangen. Die Erleuchtung fällt keinem durch Warten zu. Wenn das Ich seine wahre Gestalt noch nicht angenommen hat, ist die Gestalt des Menschen ohne Farbe und Form, wie der leere Himmel. Der Körper ist ein Haus, und jedes Haus hat einen Hausherrn, die wahre Gestalt, die es zu erkennen gilt. Sie befindet sich jedoch nicht außerhalb des Menschen, sondern in seinem eigenen Herzen.‹
Isami lächelte kaum merklich.
›Aufschlußreich!‹
Neben dem Heiligtum befanden sich einige Bäume, an deren Zweige unzählige Orakelzettel wie weiße Schleifen gebunden waren. Ich faltete den Orakelzettel zusammen und knüpfte ihn mit einem besonderen Knoten an einen Zweig. Denn der Baum, dessen Wurzeln tief in das Erdreich stoßen und dessen Zweige in den Himmel wachsen, ist ein Yorishiro – ein Göttersitz –, ein Vermittler zwischen Diesseits und Jenseits. Und da der Baum unaufhörlich weiterwächst, wird jeder Wunsch mit ihm beständig.
Als ich meinen Rucksack schon gepackt hatte, gab mir Isami ein Kinderbuch, das sie ein paar Tage zuvor veröffentlicht hatte. Das Buch hieß ›Kurinoki‹ – der Kastanienbaum. Isami schrieb mir auf die Titelseite einige Worte zum Geleit:
›Zwei, die sich im Spiegel ihrer Seelen erkennen, sind eigentlich Nicht-Zwei, denn da ist kein Selbst und kein anderer mehr.‹
Ich fuhr nach Yokohama und schiffte mich dort ein. Für japanische Studenten in dieser Zeit führte die übliche Reiseroute nach Europa über die sowjetische 367
Hafenstadt Nakhodka, dann über Rußland und Polen nach Schweden, die obligate Zwischenstation. In Europa
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