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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Blütenranken über das dünne Papier und erweckten in mir ein seltsames Gefühl der Harmonie. Aus den klassisch geformten Schriftzeichen sprach Zärtlichkeit, ein sanftes Flüstern. Es war wie ein Kerzenschein im Dunkel, ein Bild von früher, das ich sah, wenn ich meine Augen schloß, eine leise Stimme, die ich hörte, obwohl meine Ohren verstopft waren. Es war die Stimme meiner Mutter, und sie sprach zu meinem Vater. Oder zu mir? Plötzlich wußte ich es nicht mehr genau.
    ›Ich versuche die Zeit an meinen Schmerzen zu messen. Sie sagen mir, daß 363
    Gestern vorbei ist und Morgen bald kommt. Beim Aufstehen spucke ich Blut.
    Hinterher wird mir schlecht, und ich lege mich noch eine Weile hin. Isami weiß Bescheid, aber Kenchan soll nichts davon merken. Der Junge hat schon zuviel mitgemacht: Ich will nicht, daß er sich ängstigt. Gestern wurden mir beim Treppensteigen die Knie schwach. Ich setzte mich auf die Stufen wie ein Kind. Ich hatte große Schmerzen in der Brust. Das Unsichtbare, das diesen Schmerz in meinen Körper lenkt, trägt mich näher zu dir. Jahrelang sah ich dich nur verschwommen; jetzt lichtet sich der Nebel. Alles scheint weit weg, nur du kommst immer näher. Ach, wie glücklich ich doch bin!‹
    Ich las alle Briefe, die sie an einen Toten schrieb, einen nach dem anderen.
    Immer noch einen. Es waren genau achtundvierzig Briefe. Der neunundvierzigste war unvollendet. Sie hatte ihn in der Nacht geschrieben, bevor sie starb:
    ›Kenji, bleibst du jetzt bei mir? Auch tagsüber? Ich habe das Gefühl, zu schweben, es ist ganz wunderbar. Der Nebel wird immer heller, ich sehe dich! Du reichst mir die Hand. Ich betrachte sie, ich erkenne alles. Es ist deine Hand, aber zugleich auch die Hand eines Kindes. Wie merkwürdig! Was sagst du? Du sagst: Ich leihe Ken meine Hand‹.
    Ich fand mich dann auf dem Holzboden liegend wieder, den Brief an mich gedrückt. Ich betrachtete meine Hände im düsteren Licht. Mir wurde auf einmal klar, daß ich nicht nur ich selbst, Ken Miura, war. Dies war lediglich der Name, den mein bewußtes Ich trug. In mir lebte ein Geist aus fernster Vergangenheit, der mehr war als ich selbst. Konnte es eine Wirklichkeit geben, die wirklicher war als die, die ich sah, hörte, fühlte? Wäre es denkbar, daß der Tod trotz Schmerz und Leid keine Bedeutung hat? Daß der Geist nach kurzer oder längerer Ruhepause zu neuem Leben erwacht? Daß wir auf der Ebene des Geistes am Leben des Universums teilhaben könnten?
    Daß ich weinte, merkte ich erst, als eine Träne auf den Bogen fiel und dort einen durchsichtigen Fleck hinterließ.
    Sechs Tage später wurde ich entlassen. Ich war nicht verurteilt worden und kam glimpflich davon. Kleinlaut, möchte ich sagen. Ich hatte Zeit gehabt, nachzudenken.
    Isami empfing mich gelassen wie immer. Ich war finster und unrasiert. Isami streifte mich mit einem kurzen Blick und sagte:
    ›Das Bad ist bereit. Und du kannst gleich essen.‹
    An diesem Abend sprach ich zu ihr zum erstenmal seit Wochen. In der Zeit meines revolutionären Eifers hatten wir kaum miteinander geredet.
    ›Ich habe die Briefe gelesen.‹
    Sie lächelte und sagte:
    ›Nun? Haben sie dir eine Einsicht geschenkt?‹
    Verdutzt sah ich sie an.
    ›Woher weißt du das?‹
    364
    Isami schälte eine Mandarine. Ihr Gesicht glühte im hellen Lampenschein. Ihre Augen funkelten im nachsichtigen Spott.
    ›Das war ja vorauszusehen‹.
    Ich sah zu, wie sie die Schale mit ihren Fingern entfernte, die einzelnen Scheiben wie ein Blumenblatt öffnend. Lächelnd bot sie mir die Frucht in der offenen Handfläche dar. Und zum ersten Mal durchzuckte mich die Erkenntnis: Das ist Schönheit! Die Haltung des Kopfes, der Hand, das Lächeln selbst, alles war harmonisch. Eine uralte Eleganz bestimmte jede Geste. Zum ersten Mal merkte ich, daß meine Schwester etwas anderes war als eine weltfremde Träumerin. Sie war eine aufrechte, blitzende Klinge.
    Und ich merkte noch mehr: In ihrer scheinbar sanften Art hatte sie mich stets beschützt und geleitet. Ich war stolz auf meine angebliche Klugheit, meine physische Kraft, ohne jemals gemerkt zu haben, daß ich sie meiner großzügigfriedfertigen Schwester verdankte. An diesem Abend wurde es mir bewußt.
    ›Und du hast mich etwas zu fragen?‹ fuhr sie ruhig fort.
    ›Ja. Warum hast du mir die Briefe nicht früher gezeigt?‹
    ›Weil du noch nicht bereit warst, darüber nachzudenken. Und ich glaube, ich kann das beurteilen.‹
    Ich sagte:
    ›Okay, ich habe

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