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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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herrschte Hochkonjunktur; es gab kaum Asylbewerber und sehr wenige Arbeitslose. Man suchte dringend Leute, die bereit waren, in Hotelküchen oder am Fließband zu arbeiten. Schweden galt als das fortschrittlichste europäische Land mit den höchsten Sozialleistungen. Japanische Studenten, die sich ihr Geld für die Weiterreise verdienen wollten, standen an erster Stelle des saisonalen Arbeitsmarkts: pflichtbewußt, pünktlich, dazu noch mit Köpfchen. Ich machte es wie alle anderen: drei Monate am Fließband in einer Konservenfabrik, einen Monat in der Küche des Sheraton-Hotels. Dann trampte ich weiter nach Süden: Deutschland, Holland, Belgien, die Schweiz, Italien, Spanien: Stierkämpfe und Flamenco. Mit umgehängtem Fotoapparat spielte ich beflissen den typischen Japaner, die Augen am Sucher und den Finger am Auslöser. Unsere Leidenschaft fürs Fotografieren hängt mit unseren bildhaften Schriftzeichen zusammen, mit der sofortigen Sichtbarmachung von Raum und Zeit. Da wir uns jedoch nicht die Mühe machen, es den Gaijins zu erklären, müssen wir es uns gefallen lassen, daß sie uns belächeln.
    Unterwegs lernte ich die Frauen kennen. Daß mir Männer nicht lagen, hatte ich in japanischen Duschräumen längst festgestellt. Gewisse Annäherungsversuche wies ich ab. Ich war kein unbeschriebenes Blatt, merkte jedoch bald, daß ich mich in vielen Dingen pubertär aufführte. Freiheit bedeutete mir noch etwas, und ich zerschlug eine Menge seelischen Porzellans. Wobei die japanische Tugend der Unklarheit – die das Nichtgesagte dem Gesagten vorzieht – sich in manchen Fällen als Untugend erwies. Mißverständnisse tragen nicht gerade zur Völkerverständigung bei, auch nicht im Bett.
    So ließ ich mich mit dem Leben treiben, paßte mich jeder Situation an.
    Frankreich hatte ich mir bis zuletzt aufgehoben. Ich fuhr mit dem Nachtzug nach Paris, kam frühmorgens im Gare de Lyon an. Das erste, was ich feststellte, war, daß mein Wörterbuch-Französisch stümperhaft klang und die Pariser eine ungeduldige Menschensorte war. Eine Zeitlang blieb ich allein, wanderte, Trauer im Herzen, den Spuren meiner Mutter nach. Nach zwei Wochen hatte ich so ziemlich alles gesehen, was ich sehen wollte.
    Dann trampte ich weiter südwärts, nach Avignon, wo ich mich an der Uni einschrieb. Die Nouvelle Littérature war für mich passe. Sogar ›Les Chants du Maldoron‹ ließen mich kalt. Plötzlich interessierten mich die französischen Klassiker: George Sand, Balzac, Alphonse Daudet.
    Warte einen Augenblick. Laß mich nachdenken… Die Unruhe in mir, von der ich dir erzählt habe, begann nicht erst im August. Sie fing schon viel früher an, im Frühling. Ich hatte in Avignon ein billiges Zimmer gemietet und war mit einem Mädchen zusammen, einer Italienerin, die Graziella hieß. Wir fuhren mit einem Mietwagen ein bißchen in der Gegend herum und kamen dabei nach Arles. Als wir durch die Altstadt bummelten, blieb ich plötzlich vor einer Buchhandlung stehen 368
    und sah im Schaufenster die französische Übersetzung von Isamis Buch ›Der Kastanienbaum‹.
    Ich fühlte ein Kribbeln im Magen und sagte zu Graziella: ›Dieses Buch hat meine Schwester geschrieben‹.
    Graziella blieb kühl. ›Du kannst mir ja weismachen, was du willst!‹
    Ich zog die Schultern hoch, ging in die Buchhandlung und ließ mir das Buch zeigen.
    ›Ein Kinderbuch!‹ meinte Graziella. ›Na und?‹
    Ich fühlte wieder das seltsame Flattern in der Magengegend.
    ›Ich besitze die japanische Ausgabe, mit einer Widmung.‹
    ›Hast du es eigentlich noch nötig, zu bluffen?‹
    ›Nicht in dieser Sache. Ich kann dir das Buch zeigen.‹
    Doch aus irgendeinem Grund war ich nervös. Etwas war nicht, wie es sein sollte. Als wir wieder in Avignon eintrafen, durchsuchte ich vergeblich sämtliche Sachen. Das Buch war nicht mehr da. Vermutlich hatte ich es irgendwo auf der Reise verloren. Graziella glaubte mir natürlich kein Wort. ›Du bist wirklich unverbesserlich!‹
    Ich war wütend und gekränkt, nicht nur, weil sie mich verhöhnte. Es gehörte aber zu den Gründen, warum ich bald mit ihr Schluß machte. Ja, so fing es an. Und es besserte sich nicht, im Gegenteil. In den folgenden Wochen wurde mein Geist immer rastloser und unzufriedener. Ich erschöpfte mich selbst wie eine pausenlos in Betrieb gehaltene Batterie. Auch in meinen alltäglichen Gedanken schlich sich immer wieder diese ständige Unruhe ein. Manchmal drang sie bis in mein helles Bewußtsein vor,

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