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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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ich mir eine große Schale Milchkaffee und die erste Zigarette genehmigte. Ich trocknete mein Haar in der Sonne, mir selbst vertraut und noch fremd. Doch irgendwie war ich ein anderer geworden, und zwar, weil ich es so gewollt hatte. An diesem Augustmorgen in Arles, in einem Café auf der Promenade des Lices, wurde mir eine Erkenntnis zuteil: Zwischen einem kleinen Ich und einem besseren Ich hatten wir die Freiheit, 373
    zu wählen. Denn was war das Böse anderes als das Gute, das bis zur Zerstörung gegen sich selbst kämpfte? Irgendwann erreichten wir eine Schwelle der Verantwortung, jenseits derer alles, was wir taten, einzig und allein von uns selbst abhing. Und ich neigte dazu, zu glauben, daß der andersgeartete Mann schwerer mit sich zu kämpfen hatte als die Frau, da ihm die höchste Form der Verantwortung – ein Lebewesen im eigenen Leib zu formen – naturgemäß unerreichbar blieb.
    So dachte ich an jenem Morgen, und das war der Anfang vom Ende meiner wilden Zeit in Südfrankreich. Von einem Tag zum anderen wurde ich clean, pflichtbewußt und höflich, wie es sich für einen Japaner aus gutem Hause gehört.
    Das Studienjahr brachte ich ohne Zwischenfälle hinter mich und schrieb eine Abhandlung über Alphonse Daudet, die sehr gelobt wurde. Was blieb, war ein Gefühl jenseits eines Gefühls: die Erinnerung an das verzweifelte Mitleid, das ich für ein weinendes Kind in einer dunklen Mondnacht empfunden hatte. Für dieses Gefühl fand ich nie eine Erklärung, bis zu dem Augenblick, als ich dich traf. Ich glaube, daß unsere Seele ein Erbe mit sich trägt, das Erbe von vielen Wiedergeburten. In jedem menschlichen Wesen funkelt das Licht eines unsterblichen Geistes. Unsere Körper sind nur Gehäuse dieses Geistes. Vielleicht hatten wir uns schon vor langer Zeit gekannt und geliebt. Du und ich, unsere Liebe, was ist es denn, wenn nicht ein Wiedererkennen?«
    Ich hatte geschwiegen, während er sprach. Ihn nicht unterbrochen, nur zugehört. Ich lehnte den Kopf an seine Schulter, spürte, wie er atmete. Die Sonne schien voll in den Garten, bewegte sich langsam über die Veranda, wo wir saßen.
    Seine Finger streichelten mein Haar, er öffnete die Hand über meinem Kopf, eine Geste des Schutzes, der Zärtlichkeit. Ein Übermaß an Liebe macht traurig. Ich schluckte schwer und umarmte seine Schultern.
    »Du hast mich weinen gehört! Ich bin sicher, daß ich es war, die weinte. Ich spürte dich so nahe! Warum hast du mich nicht gefunden, damals? Warum hast du mich nicht gerettet?«
    Seine Augen schimmerten melancholisch.
    »Es war noch zu früh. Du warst noch ein kleines Mädchen. Und ich, was war ich denn? Einer, der sich selbst suchte und nichts als Schattenspiele fand. Die Parodie eines Menschen, wie so viele.«
    Ich ergriff seine Hand, die so schmal und stark war, preßte meine Handfläche in die seine, als wolle ich ihr einen Stempel aufdrücken.
    »Du hattest das Buch in der Hand, das gleiche Buch wie ich! Das war doch kein Zufall, ganz bestimmt nicht!«
    »Nein. An Zufälle glaube ich längst nicht mehr. Ich glaube an eine Bestimmung. Es gibt Dinge, die sich der wissenschaftlichen Analyse widersetzen.
    Und das ist gut so.«
    Er zog mich hoch, umfaßte mein Gesicht und küßte mich auf die Stirn. Mein 374
    Körper lockerte sich, schmiegte sich an ihn. Wir sahen einander an, zitternd und fast befangen. In unseren Augen war das Staunen über das, was uns widerfuhr.
    »Bist du hier?« flüsterte ich. »Bist du wirklich hier?«
    »Ja«, sagte er leise, »jetzt bin ich hier.«
    Die Schwertlilien verbreiteten ihr malvenfarbiges Licht. Die frischgesprengten Büsche dufteten nach Wasser und Erde. Wir atmeten nur unseren Atem ein, den vertrauten Hauch. Alles, was wir uns voneinander wünschen und empfangen konnten, um unsere tiefsten Ängste zu beruhigen und einander als vorbestimmte Ergänzung zu dienen, dies alles war in unseren Bewegungen und in unseren Gesichtern eingeprägt. Der absolute Glaube, die wunderbare Einsamkeit zu zweit, die Gewißheit, daß wir uns gefunden hatten, erfüllte uns.
    Das Sonnenlicht schien hell. Ich schlug die Wimpern nieder. Er legte die Hand auf meine Augen, gab mir Schatten.
    »Sag etwas!« flüsterte er.
    Meine Lider bebten unter seiner Hand.
    »Sprich«, murmelte ich, »erzähl weiter!«
    »Ich kehrte nach Tokio zurück«, sagte er.
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25. KAPITEL

    »I ch kehrte nach Tokio zurück«, sagte Ken, »mit dem Gefühl, daß ich etwas dazugelernt, aber vielleicht auch etwas verpaßt

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