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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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hatte. Dieses Gefühl war wie eine Seifenblase, die in der Luft dahintrieb, schillernd, hauchdünn, eine Illusion. Und schließlich siegte die Zeit, ließ alle Bilder verblassen, machte Geheimnisse aus ihnen, weiße Schatten, die kein Auge mehr wahrnahm. Sie verschwanden irgendwo in der Welt meiner Phantasie. Ich fühlte mich nicht von diesen Traumbildern befreit, lediglich von ihnen getrennt.
    Der junge Mann, der ich gewesen war, tat mir leid, ich hatte Mitleid mit ihm, daß er so viele Irrtümer begangen hatte. Nichts sollte an ihm hängenbleiben, nichts, was ihn beschweren konnte. Aus dem Gefühl, daß er es besser machen konnte, rieselte kühle Beruhigung. So hielt ich meine Empfindsamkeit in Schach und faßte Sachlichkeit als erstrebenswertes Ziel ins Auge.
    In Europa hatte ich mit dem Eindruck gelebt, daß die Zeit sehr langsam vorbeiging. Nicht selten hatte ich die Müdigkeit der Städte empfunden, die aus ihrer Vergangenheit lebten. Ich hatte ihre Geruhsamkeit erfahren, die Spuren einer sehr dichten historischen Überlieferung. Hier in Japan war alles anders: Während meiner Abwesenheit schien die Zeit sich beschleunigt zu haben. Die Strukturen der Gesellschaft veränderten sich; ein neues Lebensgefühl belebte mich wie starker Wein. Die Menschen wirkten sehr zielstrebig, sehr hektisch; doch ihre Art zu lachen, sich zu kleiden, zu reden war mir vertraut. Ich fühlte mich ihnen nahe; in Europa war ich ein Fremder gewesen, in dieser Welt war ich daheim.
    In dieser Zeit herrschte in Japan ein akuter Mangel an Computerspezialisten.
    Der Gedanke, nur noch in einem Büro zu sitzen, gefiel mir nicht, aber von Computern war ich fasziniert. Ich bewarb mich bei einem EDV-Unternehmen und bekam die Stelle. Mit meinem Diplom der Tokio-Universität und meinen Kenntnissen in Fremdsprachen stand mir für eine vielversprechende Yuppie-Laufbahn nichts mehr im Weg. In nur sechs Monaten wurde ich zum Systemingenieur ausgebildet. Ich ließ mir die Haare akkurat schneiden und ein paar Anzüge anfertigen. Dazu kam selbstverständlich das Aktenköfferchen. Fertig war der Salariman! Mein eigentliches Ziel, in einigen Jahren eine eigene Software-Firma zu gründen, behielt ich für mich.
    Nach meiner Rückkehr wohnte ich wieder bei Isami. Sie hatte immer noch diesen dünnen Körper, diesen sehr langen Hals, das füllige, seidenweiche Haar.
    Auf den ersten Blick wirkte sie unscheinbar. Die Art, wie sie sich bewegte, war seltsam verhalten, in sich gekehrt: eine wehende weiche Linie. Mit ihrer blassen Haut, ihren rauchfarbenen, spöttischen Augen, ihrer provozierend unmodischen Kleidung war sie das Gegenteil von dem, was man sich unter einer berühmten 376
    Künstlerin vorstellte, aber ihr bescheidenes Auftreten, das etwas Ungelenke in ihrer Erscheinung täuschte. Auf den zweiten Blick merkte man genau, daß sie alle Fäden in der Hand hielt. Wir sprachen viel miteinander; besser gesagt, ich sprach, und sie hörte zu. Es war nicht Isamis Art, Sprüche zu klopfen. Wenn sie merkte, daß mich etwas beschäftigte, sagte sie nur: ›Du könntest ja mal darüber nachdenken‹. Und das tat ich. Oft gingen mir gewisse Dinge, die sie mir in beiläufigem Ton gesagt hatte, durch den Kopf, und plötzlich blitzte ihr Sinn wie ein überraschender Lichtstrahl in mir auf. Unter ihrer Anleitung begann ich allmählich, ein Verständnis für mehrdimensionale Dinge zu erlangen. Ich wußte Verschiedenes über Chemie und Physik, aber einige von Isamis Grundbegriffen standen im direkten Gegensatz dazu, was mich allerdings nicht überraschte. Ich wunderte mich lediglich, woher Isami, deren Schulbesuch chaotisch verlaufen war, Kenntnisse über diese Dinge hatte. Seit meiner Rückkehr aus Europa war ich von ihren Bildern fasziniert: Ich liebte ihre kühle, klare Farbpalette, ihr Formengefühl, ihre Art, die Landschaft in eine Stimmung einzubeziehen, sie mit Empfindungen zu beseelen. Bei ihr wurden die Gefühle der Menschen zu Gefühlen der Natur. Oft sprach sie zu mir, während sie malte; ich saß am Boden, rauchte und hörte zu. Sie war fähig, mich durch ihre Worte psychisch high zu machen, mich mit einer größeren Wirklichkeit in Berührung zu bringen, während ich mein Alltagsleben außerhalb von ihr lebte.
    Ich verliebte mich. Und wie üblich in diesen Dingen hieß es bei mir: alles oder nichts. Midori Kato war die Kusine eines Bürokollegen. Sie war Chefsekretärin des Abteilungsleiters und arbeitete im gleichen Gebäude wie ich, nur zwei Etagen höher.

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