Silbermuschel
Sonne entgegen, der Tag nahm kein Ende. Der grünblaue Himmel war von gläserner Durchsichtigkeit. Wir blätterten in Zeitschriften, unterhielten uns, bis uns das Gefühl des vollen Magens und das Surren der Triebwerke in einen Zustand schläfriger Apathie versetzten. Bald gingen die Lichter aus; das Schweben der Boeing schläferte mich ein. Ich wachte auf, als Franca von der Toilette zurückkam und ich ihr Parfüm, gemischt mit dem Geruch von Tabak, neben mir wahrnahm. Eine zweite Mahlzeit wurde serviert. Ich ließ die Hälfte stehen und schlief weiter. Wieder vergingen Stunden. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Fast alle Leute schliefen jetzt, ein paar lasen. Irgendwann wimmerte ein Kleinkind und schlief wieder ein. Unvermittelt ertönte ein Gongsignal, die Lichter gingen an. Die Passagiere wachten auf, streckten sich.
Es gab einen Imbiß. Eierkuchen mit Pilzen, eine kalte Platte, einen Fruchtsalat, Kaffee so viel wir wollten. Ich hatte keinen Hunger, Franca auch nicht. Wir stopften alles in uns hinein, und Franca seufzte: »Ach Gott, jetzt werde ich in Tokio wieder drei Tage lang verstopft sein! «
Die Zeitverschiebung versetzte mich in einen Dämmerzustand, in dem mir alles unwirklich vorkam. Die Leuchtschrift »Fasten seat belts, please« ging an. Aus dem Lautsprecher ertönte die Stimme des Piloten und kündigte Turbulenzen an. Schon bald begann die Maschine zu vibrieren. Die Rückenlehnen zitterten, die Fächer für das Kabinengepäck dröhnten, und ein Glas rollte klirrend über den Boden. Franca war bleich geworden.
»Hoffentlich gehen wir nicht in die Statistiken der Flugzeugunfälle ein!«
Die Wolken, die mit verwirrender Geschwindigkeit an uns vorbeiflogen, ließen mich dieses Gefühl des Mitschwingens, des Gezogenseins noch deutlicher spüren.
Der Druck, der mich mit dem Flugzeug auf- und abschwingen ließ, war wie eine Umarmung, eine Verheißung. Ich hatte nicht die geringste Angst, auch nicht, als die Maschine in ein Luftloch fiel und wir das Gefühl hatten, in einem Aufzug in die Tiefe zu sacken. Das Kleinkind schrie, die Passagiere wirkten verkrampft und grau im Gesicht. Einige versteckten sich hinter ihrer Zeitung.
»Himmel!« stöhnte Franca, »ich brauche dringend einen Cognac!«
Wir waren von Wolken umgeben, auf denen der Schatten des Flugzeugs, vor-und rückspringend, gespenstisch neben uns herglitt. Manchmal klafften, unvorstellbar weit und tief, große schwarze Löcher in dieser Wolkenwand. Ich saß ganz still, die Augen halb geschlossen, überließ mich den Stößen und dem Schaukeln der Maschine, bis das Beben allmählich nachließ. Der Pilot teilte uns mit, daß wir die Turbulenzen hinter uns hatten und dank starkem Rückenwind früher als geplant auf dem Flughafen von Narita landen würden. Sofort wurde die Stimmung lebhaft. Franca zündete sich mit flatternden Händen eine Zigarette an.
»Nimm es mir nicht übel, aber im Flugzeug werde ich Opfer 51
höchstpersönlicher Wahnvorstellungen! Wie ruhig du bist«, setzte sie hinzu. »Wie bringst du das nur fertig?«
Ich blieb ihr die Antwort schuldig. Euphorisch wie ein Kind, das an Weihnachten denkt, sah ich mich in einem Hotelzimmer in Tokio erwachen.
Vielleicht würde es noch früh sein und still. Ich würde eine Weile liegenbleiben, um mich aus meinen Träumen zu lösen. »Wo bin ich?« würde ich mich im Halbschlaf fragen und mir selber die Antwort geben: »Da, wo du sein willst.« Ich würde leise vor mich hinlachen, weil diese Erkenntnis so klar, so einleuchtend war.
Eine Zeitlang würde ich diesen wunderbaren Zustand des Begreifens hinter meinen geschlossenen Lidern festhalten, ihn auskosten, wieder und wieder. Erst dann würde ich die Augen aufschlagen, würde das Wachsen der Helle aus der Dämmerung beobachten und sehen, wie die Gegenstände Linien, Formen und Farben annahmen. In den gedämpften, richtungslosen Geräuschen, im Rauschen des Verkehrs, in den Stimmen fremder Vögel würde ich fühlen, wie die Stadt von draußen in mein Zimmer drang, mich in sanfter, machtvoller Umarmung erfaßte und mit sich zog.
Tokio und ich würden erwachen, zur gleichen Zeit.
Und Tokio erwachte; die Helligkeit nahm langsam und stetig zu, die ganze Bucht überflutend. Rosiger Sonnenschein beleuchtete das Häusermeer, fiel in dunkle Straßenschluchten, teilte sie geometrisch genau in Schattenseiten und funkelnde Fensterfronten. Die ersten U-Bahnen und Vorstadtzüge donnerten durch die Tunnel, rasselten über die Eisenbrücken.
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