Silbermuschel
Straßen tragen, sie mit Tanz und Musik erfreuen und nach dem Verbrennen der Kultfackeln wieder in ihren Schrein geleiten.
Für Nachtaufnahmen benötigte ich besonders empfindliche Filme, mit feinem Korn und hoher Schärfe. Da ich befürchtete, nicht mehr genug Vorrat zu haben, fuhr Ken mit mir am Nachmittag nach Ryotsu. Im Fotogeschäft wartete er geduldig 497
und anscheinend unbeteiligt, während ich mit dem Verkäufer sprach. Diese Dinge sollte ich selbst erledigen, sagte er, mischte sich nicht ein und amüsierte sich. Die Methode war wirksam. Ich hatte ein französischjapanisches Wörterbuch bei ihm gefunden und benutzte es fleißig. Nichts machte mir mehr Vergnügen, als zu sehen, wie sich auf den Gesichtern der Inselbewohner die Befangenheit in offene Herzlichkeit verwandelte, sobald sie merkten, daß ich ihre Sprache – wenn auch nur dürftig – verstand. Das sofortige Gefühl des Anerkanntwerdens, des Dazugehörens erfüllte mich mit Wärme. Der errötende junge Mann, bei dem ich meine Filme kaufte, pflegte mir jedesmal einen Sonderrabatt zu geben. Und wie er darüber lachte, Ken!
Auf Sado schlug das Wetter schnell um. Am Morgen war es kühl und windig gewesen. Jetzt schien warm die Sonne. Das Meer, in sanften Wogen heranrollend, funkelte wie Türkis.
»Eine ruhige See ist ein gutes Vorzeichen für das Fest«, meinte Ken. Wir streiften unsere Helme über und setzten uns auf das Motorrad. Wir wollten frühzeitig wieder in Himesaki sein, weil Ken mit seinen Musikern noch Vorbereitungen zu treffen hatte. In Ryotsu waren sämtliche Straßen verstopft.
Viele Besucher waren vom Festland gekommen, um die Matsuri zu sehen. Ken steuerte die Maschine in seiner ruhigen, geschickten Art. Ich preßte meine Arme um ihn. Wenn wir bei Rotlicht warteten, faßte er meine Hand, umschloß meine Finger, bis die Ampel auf Grün wechselte. Am Stadtrand wurde der Verkehr flüssig; Ken schaltete in den zweiten Gang, überholte einige Autos. Der Fahrtwind prickelte angenehm auf meiner Haut. Auf der anderen Straßenseite, an der Kreuzung, bog ein Lieferwagen schwerfällig in eine Nebenstraße ein, gerade, als ein Motorradfahrer mit voller Fahrt heranbrauste. Ich spürte, wie Ken zusammenzuckte. Der Motorradfahrer hatte das langsame Tempo des Lieferwagens nicht einkalkuliert und bremste zu spät. Mit lautem Krachen und Splittern prallte das Motorrad in voller Wucht gegen den Lieferwagen. Der Stoß wirbelte den Fahrer in die Luft; er flog ein paar Meter über das Dach und fiel dann schwer gegen eine Hauswand, während das Motorrad, seitwärts über die Straße geschleudert, seinen Aufprall mit drehenden Reifen in einer Benzinlache beendete.
Kens Reaktion war blitzschnell; mit einem Blick in den Rückspiegel fuhr er sofort an den Straßenrand, bremste, riß sich seinen Helm vom Kopf, den ich hastig an mich nahm. Schon lief er zwischen den Autos hindurch, hielt den aufkommenden Verkehr an. Der Lieferwagen stand quer auf der Straße, alle Scheiben waren zersplittert. Ken warf einen raschen Blick auf den Fahrer in der Kabine, der unversehrt war und jetzt mit bleichem Gesicht ausstieg. Ein älterer Mann, schwerfällig, schwer atmend und völlig unter Schockwirkung. Einige Leute hatten den Unfall mit angesehen. Ein Mann lief zu einem der kleinen grünen Telefone, die in Japan in jeder Straße stehen; er nahm den Hörer ab, warf hastig ein paar Geldstücke hinein und wählte eine Nummer. Inzwischen setzte sich der Verkehr 498
wieder in Bewegung. Die Autos fuhren vorsichtig um das beschädigte Fahrzeug herum. Einige Lastwagen, die nicht vorbei konnten, hielten am Straßenrand an.
Der Motorradfahrer lag mit dem Rücken zur Wand und bewegte sich schwach.
Sein Helm hatte sich beim Aufprall verschoben; oder wahrscheinlicher, der Fahrer hatte ihn schlecht befestigt gehabt. Blut tropfte hervor; mir wurde flau im Magen.
Ken war schon bei ihm, umfaßte mit einer Hand das Kinn des Verunglückten, löste den Kinnriemen und nahm ihm behutsam den Helm ab, indem er seinen Nacken mit dem Oberarm stützte. Es war ein junger Mann mit kurzen, blonden Haaren. Die eine Gesichtshälfte war weiß, über die andere flöß Blut aus einer Wunde an der Schläfe. Seine Augen waren halb geschlossen, er gab keinen Laut von sich. Ken betastete vorsichtig seine Arme und Beine; sie kamen mir völlig schlaff vor. Leute kamen jetzt von allen Seiten angelaufen. Sie bildeten einen Kreis, gestikulierten und redeten mit erregter Stimme, wie erschrockene Menschen es tun.
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