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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Spiegel zerschlug. Ich bin Inari, die Füchsin; ich bin deine Lebenskraft, dein Schutzgeist. Es ist alles ganz einfach, sieh doch: Ich bilde den Baum in meinem Kopf nach. Der Stamm ist zur Seite geneigt, das Innere hat eine tiefe, senkrechte Furche. Ein ausgebranntes Loch. Schwarz, verkohlt. Seit langer Zeit schon. Weiter oben kommt die Knolle. Dann gabelt sich der Stamm in fünf Äste, und diese teilen sich wiederum in Zweige.
    Vier… fünf… acht Zweige. Und noch ein kleiner, halb abgebrochen. Jetzt die Blätter. Ich sehe sie nacheinander, wie im Flug; sie werfen ein grünes Licht. Sie bilden ein besonderes Muster: einen großen Bogen, kreisrund, an einer Seite abgeflacht, weil der Wind meistens vom Nordwesten kommt. Ich sehe all diese 538
    Dinge. Ich sah sie schon als Kind. Damals war es nur ein Spiel, das ich mir beigebracht hatte. Und wenn ich diese Dinge sehe, dann halte ich sie fest, und dann springt die Füchsin aus mir heraus, unter die Wurzeln des Baumes. »Saa yatte goran!« hat Kimiko gesagt. Sie wünscht, daß ich dich zu mir hole. Ich nehme an, das interessiert sie. Vielleicht denkt sie, ich hätte einen Trick dafür. Aber ich habe keinen; ich kann mich nicht für etwas Besonderes halten und ihr auch nicht erklären, daß das wirklich nur ein Spiel für mich ist. Ich kann schlecht mit ihr darüber reden, das kannst du viel besser. Du wirst ja gleich hier sein. Natürlich träume ich nur von dir, und wenn ich sehr aufmerksam in die Flammen starre, sehe ich dich. Wenn ich mich jetzt konzentriere, fügt sich dein Bild zusammen. Du kniest hinter dem Feuervorhang auf der anderen Seite. Komm näher! Ja, so ist es gut. Ich muß die Reihenfolge einhalten. An den Baum denken. Die Füchsin wecken. Ich sehe dich deutlicher. Du streckst den Arm aus. Du hast etwas in der Hand. Ein kleiner, glitzernder Gegenstand. Du hältst ihn mir hin, aber ich kann ihn nicht nehmen. Mir ist nicht wohl dabei. Diese Hitze in den Augen! Ich habe Angst, mich zu verbrennen. Komm näher… noch näher!… Nimm dich in acht! Warte, Ken. Ich sage dir: Warte!… Tu es nicht! O Ken! Warum hast du… Die Füchsin!
    Sie springt! Jetzt!
    Ein plötzlicher Stoß, ein glühendheißer Schmerz in meiner Handfläche. Ich schrie auf, schüttelte meine Hand. Ein goldener Gegenstand fiel ins Gras. Mit stumpfem Geist starrte ich auf die münzengroße Brandwunde in meiner Handfläche. Ich krümmte mich vor Schmerz, umklammerte mit der linken Hand mein rechtes Handgelenk, sah dann auf den Boden, zu dem Gegenstand, der mich verbrannt hatte. Im Gras lag, noch heiß von der Hitze der Flammen, Kens goldene Uhr.
    Mein Magen drehte sich um. Die Uhr! Wie kam sie bloß hierher? Hatte ich sie getragen, als ich mich auf den Weg zu Kimiko machte? Nein, unmöglich! Ken legte sie niemals ab. Zitternd tastete ich nach der Uhr. Fühlte, daß das Metall abgekühlt war. Hob sie auf, hielt sie im Licht der Flammen vor meine Augen. Das Lederarmband war an zwei Stellen versengt, das Glas jedoch unversehrt. Der winzige Goldzeiger stand unverändert auf 8 Uhr 15.
    »Ken?« murmelte ich.
    Ich kannte meine eigene Stimme nicht wieder. Die Verbrennung schmerzte und pochte; schon begannen sich Blasen zu bilden.
    »Ken?« wiederholte ich. »Wo bist du?«
    Dann drehte sich alles vor meinen Augen; der Boden gab unter mir nach, die Flammen schlugen mir entgegen. Jemand packte mich an den Schultern, riß mich hoch, vielleicht stand ich auch selbst auf, ich weiß es nicht mehr. Ich fühlte mich geschüttelt, sank schlaff in die Arme, die mich hielten, bergend und tröstend. Eine Hand strich über meine schweißnasse Stirn, und eine Stimme sprach zu mir, heiser und ruhig; ich jedoch hörte nichts, sah nichts. Mein einziger bewußter Gedanke 539
    galt dem Hitzeknoten in meiner Hand, diesem pochenden, schwellenden Schmerz, der genau den Umfang der Uhr hatte. Dieser Uhr, die ich an mich preßte, an mein rasendes Herz.
    Das kann nicht wahr sein. Das kann es ganz einfach nicht geben. Das ist unmöglich, undenkbar.
    Vielleicht ist gar nichts passiert.
    Aber die Uhr ist da!
    Warum habe ich das nur getan? Und was soll ich jetzt machen? Ein vertrautes Gefühl, wenn ich Angst habe. Und ich habe jetzt ganz furchtbare, ganz unerträgliche Angst. Ich will nichts fühlen, nichts denken, nichts mehr wissen. Ich will nur ein Teil dieser Dunkelheit sein. Ich muß es schnell tun, ganz schnell, bevor ich den Verstand verliere. Die Dunkelheit arbeitet sich hoch. Sie wächst, türmt sich auf, springt

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