Silbermuschel
man vieles klarer. Ich habe die Trommel gehört. An den Baum und den Fuchs gedacht. Die Bilder in meinem Kopf geordnet wie früher. Das hätte ich nicht tun sollen. Das hätte ich auf keinen Fall tun sollen. Warum? Weil dann immer auf natürliche Weise ganz merkwürdige Dinge geschehen. Und wenn sie erst mal beginnen, habe ich keinen Einfluß mehr auf sie. Das ist das Schlimmste daran.
Ich habe die Uhr aus den Flammen geholt. Du hast sie mir gereicht. Wir sind uns entgegengekommen. Durch die Flammen. Zwischen dir und mir besteht kein Unterschied mehr. Wir sind wie eine einzige Seele, die sich geteilt hat, um in zwei Körpern zu wohnen. Wir stellen diesen Anspruch: ein einziges Wesen zu sein. Für 541
immer. Und dazu, das sehe ich ein, waren diese Dinge wohl notwendig. Sie lassen alles in einem neuen Licht erscheinen. Sie machen, daß es wahr wird. Vielleicht sollte ich glücklich sein. Ich weiß es nicht, ich weiß überhaupt nichts mehr. Ich will doch nicht verrückt werden, Ken. Wann endlich kommst du? Das wirst du mir doch nicht antun, daß du mich hier noch lange warten läßt? Ausgerechnet jetzt, wo ich so durcheinander bin.
Ich versuchte, die Uhr an meinem Handgelenk zu befestigen. Es ging nicht; das Armband war zu sehr beschädigt. Also schob ich sie in meine Jeanstasche. Kimiko brummte etwas und nickte. Sie hob das Tablett und stellte es auf meine Knie.
»Iß!« sagte sie.
In einer Schüssel dampfte Miso-Suppe, in der anderen Reis mit getrockneten Fischflocken. Ein rohes Ei war mit Sojasoße in einer kleinen Schale vermischt. Ich schlürfte die Suppe.
»Iß weiter«, sagte Kimiko. »Auch den Reis.«
Ich nahm die Schüssel in die linke Hand und aß ein bißchen Reis.
»Magst du kein rohes Ei?« knurrte Kimiko.
Ihr Haar war mit einer Spange zu einem Knoten aufgesteckt. Ihre Augen blitzten durch die weiße Strähne, die ihr ins Gesicht gefallen war. Ihr Ausdruck hatte sich verändert. Sie sah ungeduldig und abwesend aus; ich konnte nicht ausmachen, weshalb. Alte Menschen sind unberechenbar. Auch sie gehörte zu denen, die sich ihre eigenen Gestalten erfinden. Dieser Raum war erfüllt von einer Unendlichkeit lebender und singender Dinge. Aber es war Kimikos Welt, nicht meine. Ich verschloß ihr meinen Geist.
Als ich gegessen hatte, fühlte ich mich besser. Ich warf die Decke zurück, richtete mich schwerfällig auf. Mein verletztes Knie schmerzte; ich zog das Bein nach. Ich gab Kimiko zu verstehen, daß ich mich waschen wollte. Sie stapfte in die Küche, drehte den Wasserhahn auf. Während das Wasser in einen Plastikbehälter einlief, zeigte sie mir, wo die Toilette war. Ich schlüpfte in Plastikpantoffeln und trat in ein Verlies mit einem winzigen Fenster. Es handelte sich lediglich um ein Loch im Bretterboden. Außer dem Gestank aus der Grube war alles peinlich sauber. Ich sah, daß sich auf meinem Knie schon eine Kruste gebildet hatte. Das Gelenk war noch geschwollen, aber allmählich beruhigte sich der Schmerz.
Inzwischen war das Wasser eingelaufen. Ich war es von Kindheit an gewohnt, mich kalt zu waschen. Kimiko gab mir ein abgenutztes Stück Seife, ein frisches kleines Handtuch mit blauem Muster. Ich zog mein T-Shirt über den Kopf, wusch mir Gesicht und Oberkörper, spülte mir den Mund aus. An der Wand hing ein kleiner Spiegel, wie ihn Männer zum Rasieren benutzen. Meine Haut war wachsbleich, die Lippen ausgetrocknet; unter meinen Augen hatten sich Schatten gebildet. Als ich mich kämmte, fühlte ich die Blasen in meiner Handfläche. Die Wunde sah nicht gut aus. Ich verzog schmerzhaft das Gesicht.
»Itai«, seufzte ich. »Es tut weh…«
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Kimiko öffnete eine Schublade, entnahm ihr eine Blechdose, die eine Anzahl Tuben und Döschen enthielt. Sie strich eine braune Salbe über meine Handfläche und nickte mir beruhigend zu.
»Bald vorbei«, sagte sie.
Die Salbe kühlte und tat gut. Als ich die Augen hob, um Kimiko zu danken, bemerkte ich ein kleines Loch unter der Wand. Davor stand eine Schüssel mit Milch. Ein winziger flacher Kopf bewegte sich in der Öffnung. Ich deutete fragend darauf.
»Hebi – Schlange«, erwiderte sie, ohne den Blick zu wenden. »Nicht böse –
gut. Schläft im Winter, wacht im Frühling auf. Tanzt immer im Kreis. Von Osten nach Westen.«
Ich nickte; es war die schützende Hausschlange, die uralte Erdgottheit, die Jahr für Jahr ihr Schuppenkleid wechselt. Sie gehörte zu all diesen Dingen hier, zu der Welt der Zeichen und Wunder. Ich lächelte Kimiko an,
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