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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Glas. Wir stießen an.
    Michael trank in kräftigen Schlucken. Behutsam legte ich die Stäbchen wieder hin.
    Ich brachte keinen Bissen herunter. Ein wenig Suppe vielleicht? Ja, die Suppe würde mir guttun.
    »Ich kann mit diesen Mini-Portionen nichts anfangen.« Michael wischte sich den Bierschaum von den Lippen. »Und der ewige Fischkonsum hängt mir zum Hals heraus. Ich esse meist in einer Pizzeria. Japan imitiert ja alles Westliche, sogar die Eßgewohnheiten. Man will amerikanischer als die US A und italienischer als Italien sein. Die japanische Tradition ist tot, jede Eigenständigkeit zerstört.«
    »Ich würde weniger kategorisch urteilen.« Franca drückte ihre Zigarette aus.
    »Mir scheint, daß die Japaner durchweg an ihrem eigenen Stil festhalten. Ein McDonald’s an der Ecke sagt noch nichts über die tatsächlichen geistigen Werte aus.«
    Michael zeigte mit seinem Nicken, daß er zwar zugehört hatte, ihre Argumente aber kaum für beachtenswert hielt.
    »Ich muß offen zugeben, daß ich in kein Land mit mehr Illusionen und Erwartungen gefahren bin als nach Japan. Das will etwas heißen, schließlich bin ich schon viel in der Welt herumgekommen. Als ich jedoch nach Tokio kam, fühlte ich mich wie ein Mensch, der aus dem Kino kommt und dem die Wirklichkeit brutal ins Gesicht schlägt.«
    Unter meinen Lidern schwammen Lichter hin und her. Ich nahm einen Schluck Suppe. Die Suppe schmeckte nach Ingwer, nach Kresse, nach Frühlingsgräsern.
    »Und Sie?« fragte Michael. »Mögen Sie japanisches Essen?«
    Wenn er nur aufhören würde, mich anzustarren! Ich hob die Lider, streifte ihn mit einem flatternden Blick. Im Bruchteil eines Atemzuges geschah die Verwandlung: Durch Michaels Gesicht schimmerte ein anderes Antlitz, vornehm und mit aschgrauem Haar, die Lippen spöttisch gekräuselt. Die Vision zuckte auf und verschwand. Zurück blieb eine Blindheit wie nach dem Aufflackern eines Blitzes. Die Schale entglitt meinen Händen; der Suppenrest schwappte über. Mein Kopf sank auf die Brust.
    69
    »Himmel, Julie! Du wirst doch wohl nicht einschlafen!«
    Ich hörte Francas Stimme; sie kam von weit her. Schon hatte sie die Schale aufgehoben, auf den Tisch gestellt, mir ihr eigenes Bierglas an die Lippen gehalten.
    »Komm, trink etwas Kaltes!«
    Ich trank, verschluckte mich, hustete. Etwas schüttelte mich von innen, ich öffnete die Augen und lächelte Franca an.
    »Danke. Es geht schon wieder.«
    »Was ist denn los? Was haben Sie?« fragte Michael. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«
    Suppe war auf meine Arme getropft, mein T-Shirt fühlte sich naß an.
    »Hier, nimm mein Taschentuch«, sagte Franca. Sie wandte sich an Michael und nahm das Gespräch wieder auf, in der wohlmeinenden Absicht, seine Aufmerksamkeit von mir abzulenken.
    »Ist schon gut, Julie ist gleich wieder da. Also, wenn ich Sie recht verstehe, werfen Sie den Japanern vor, daß sie nicht Ihren Erwartungen entsprechen?«
    Ich sah verschwommen, wie er das Kinn auf die Faust stützte. Die Faust schien auf diese Weise noch wuchtiger.
    »In der Tat war das einzig Exotische in Japan meine eigene Gutgläubigkeit.«
    Michaels Stimme klang so monoton, als ob er im Geist etwas niedergeschrieben hätte und jede Seite bedächtig umblätterte. »Ganz Japan versinkt im Strudel der Rationalität, verneint jegliche Ethik. Religion und Moral gehen ja Hand in Hand, aber die Japaner sind zu einem echten Religionsempfinden überhaupt nicht fähig.
    Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes Heiden. Ihre eigene Ur-Religion ist primitiver Animismus, wie ihn die Völker im Urwald praktizieren. Ebenso leichtfertig, wie sich manche von ihnen zum Christentum bekennen, sich
    ›katholisch‹ oder ›evangelisch‹ trauen lassen, würden sie sich in einer Moschee gen Mekka niederwerfen oder in Jerusalem vor der Klagemauer beten. Wir würden solche Nachahmungen als Respektlosigkeit ansehen. Die Japaner jedoch würden keinen Gedanken über den tiefen Sinn dieser Handlungen verlieren. Zu Hause verneigen sie sich vor einem geflügelten Spiegel, der die Sonnengöttin darstellt.
    Vor dem Grab ihrer Vorfahren zünden sie Räucherstäbchen an und beten zu Buddha. Sogar westlich Erzogene suchen einen Schrein auf, schreiben einen Wunsch auf einen Papierstreifen und knüpfen ihn an einen Busch, damit irgendein Gott sie erhöre.«
    Das Gesicht, das ich nicht sehen wollte, kam deutlicher zum Vorschein. Beide Gesichter gingen ineinander über, bildeten ein einziges, das von Michael.
    »Mißverstehen

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