Silbermuschel
sich vertieften. Glasspitzen lösten sich, neigten sich zur Seite, hoben sich in ihren Umrissen ab wie Krallen, bevor sie in Zacken zerbrachen. Einen Augenblick später zerbarsten alle Spiegel, lösten sich von der Decke wie ein stürzender Regenguß. Mir war, als ob mein eigenes Gesicht, zersprungen in tausend Scherben, klirrend und rasselnd auf mich herabfiel. Ich hörte eine Stimme, die laut schrie; es war die Stimme eines Mannes. Dann plötzlich Stille. Und dann gar nichts mehr.
Ich ging die Treppe hinunter, langsam und mit großem Bedacht. Meine Füße schienen am Boden zu kleben. Verwundert merkte ich, daß ich keine Schuhe anhatte. Der Versuch, einen Fuß nach dem anderen zu heben, ging fast über meine Kräfte. Ich tat jeden Schritt mit einer Anstrengung, die mich taumeln ließ. Aber meine Beine trugen mich weiter. Die Wände schaukelten hin und her, wie rote Stoffbahnen im Wind. Ein dunkler Schatten lief neben mir her, verschwand, holte mich wieder ein. Ich hatte Angst, die Treppe hinunterzufallen, aber ebensoviel Angst, den Aufzug zu benutzen. Das Gehen verursachte mir Schmerzen in der rechten Hüfte. Sobald ich das Bein anders stellte, klang der Schmerz ab. Ich klammerte mich am Geländer fest, schleppte mich schwerfällig weiter. Eine Stufe hinunter. Noch eine. Der Gang, aber viel größer jetzt. An Türen vorbei. Dann ein neuer Treppenabschnitt, das Geländer hoch oben. Wieder eine Stufe hinunter, eine zweite. Der Schatten tanzte über die Wand, an mir vorbei, als wolle er mir den Weg weisen. Zu begreifen war da nicht viel; selbst wenn ich mich zu erinnern 99
vermochte, was geschehen war, waren es Dinge, die keinen Sinn ergaben. Im Treppenhaus und in den Gängen regte sich nichts; das einzige Geräusch war mein halbersticktes Atmen. Um die Ecke jetzt, zum nächsten Treppenabsatz.
Plötzlich blieb ich stehen, hielt erschrocken die Luft an. Im Hintergrund des Korridors bog die Wand sich vor wie ein Globus; aus der Wölbung trat mein Phantomkörper heraus und starrte mir entgegen. Einen Atemzug lang stockte das Herz in meiner Brust, bis ich merkte, daß ich vor einem Spiegel stand. Gleichzeitig sah ich etwas anderes: Ich war bis zum Gürtel nackt. Meine Sachen hielt ich in der Hand, ziemlich weit vom Körper weg. Mein Haar, eigentümlich gesträubt, stand vom Kopf ab. Einige Strähnen fielen mir bis zu der Nasenwurzel, und ich sah sie doppelt, so daß sie wie ein Prisma leuchteten. Meist ging ich nie ohne Kamm weg, jetzt hätte ich wirklich einen gebraucht.
Als ich mich bewegte, bemerkte ich ein Glitzern auf meiner nackten Haut. Ich beugte mich vor, um besser zu sehen, und stellte fest, daß ich verletzt war. In den Armen und oberhalb der Brüste steckten kleine Glassplitter. Es waren mindestens ein Dutzend Wunden, und eine davon, am Halsansatz, sah tief aus. Die frischen Einschnitte waren geschwollen und schmerzten, als ich sie mit den Fingern berührte.
Bevor ich daran dachte, mich anzuziehen, mußte ich diese Splitter loswerden.
Ich trat so dicht an den Spiegel heran, daß der Hauch meines Atems die Fläche trübte, und pickte behutsam die Splitter einen nach dem anderen aus der Haut. Es ging leichter, als ich dachte. Sobald ich die Splitter herausgeholt hatte, sah die Haut wieder unversehrt und glatt aus. Nur einmal, als ich am Halsansatz ein drei Zentimeter langes Glasstück entfernte, flöß ein bißchen Blut. Zurück blieb nur eine winzige blaue Stelle. Ich atmete erlöst auf. Das Entfernen der Splitter hatte mir keinerlei Schmerzen verursacht. Um so mehr erschrak ich, als ich meinen Büstenhalter über die Schultern ziehen wollte und rote Flecken entdeckte. Wo kam das Blut nur her? Eine Gänsehaut jagte mir über den nackten Rücken. Ich knüllte den Büstenhalter zusammen und stopfte ihn in die Tasche. Ich wollte keine Zeit mehr verlieren. Hastig streifte ich meine Bluse über; zumachen konnte ich sie nicht, alle Knopflöcher waren ausgerissen. Ich schlug die Stoffzipfel übereinander, schob die Bluse tief in die Jeans. Dann zog ich den Reißverschluß hoch und schnallte den Gürtel enger. Sogar an meinem Blazer klebten Glassplitter; ich schüttelte und klopfte ihn ab, bevor ich ihn anzog. Das, was ich mitgenommen hatte, steckte in meiner Tasche. Zum Glück hatte ich rechtzeitig daran gedacht.
Jetzt hatte ich nichts mehr zu befürchten. Ich wandte mich vom Spiegel ab, setzte mich vorsichtig wieder in Bewegung. Das dumpfe Gefühl war verflogen, mein Kopf wurde klar; aber zur Sicherheit hielt
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