Silbermuschel
eine Empfangsdame an ihrem Tisch. Franca nannte ihren Namen. Die Empfangsdame drückte eine Reihe Knöpfe auf dem Telefon. Ich sah mich um. An den Wänden hingen Hochglanzfotos von Rockmusikern. Sofa und Stühle waren aus rotem Leder. Auf dem gläsernen Couchtisch lagen Hefte aus der Musikszene.
Tontechniker kamen und gingen, grazile junge Leute in Jeans und T-Shirts, mit wippenden Haaren. Franca hatte mit einer gewissen Keiko Imada ein Treffen abgemacht, die einige Minuten später aus dem Aufzug kam. Imada-san trug einen grellroten Sweater, einen ledernen Minirock und Netzstrümpfe. Ihr Haar war flaumig und kurz geschnitten, ihre Augen funkelten wie Pechkohle. Ich hatte noch nie so schwarze Augen gesehen. Wir tauschten unsere Visitenkarten. Keiko Imada sprach mit zirpender Stimme ein drolliges, gebrochenes Englisch. Wir fuhren mit dem Aufzug noch zwei Stockwerke höher. Das Soundstudio, in das Imada-san uns führte, entlockte Franca einen bewundernden Pfiff.
»Bemerkenswert! «
Der Raum war eine einzige Synthesizeranlage, angeschlossen an verschiedene Computer. Diagramme in fluoreszierenden Regenbogenfarben zuckten auf den Monitoren. Hinter dem Mischpult saß ein drahtiger junger Mann, untersuchte die Schwingungsverläufe und die Amplitudenänderungen. Er hatte ausgesprochen mongolische Züge, mit schrägen Augen, hoch angesetzten Wangenknochen und einem Schnurrbärtchen über blitzenden Zähnen. Yasuo Kawashima war Komponist. Franca hatte mir seine Biographie zu lesen gegeben: Studium an der Nationalen Musikhochschule in Tokio. Gastspiele in London, New York und Berlin. Er schrieb Filmmusik, hatte zwei Opern komponiert und acht goldene Schallplatten gewonnen.
Ich hatte mir Kawashima älter vorgestellt. So, wie er vor uns stand, sah er wie ein Student aus, der noch nicht viel von der Welt gesehen hatte. Vielleicht ist es nur Pose, dachte ich. Doch er war schüchtern; es zeigte sich darin, daß er seinem Schulenglisch nicht traute und nur japanisch sprechen wollte. Seine Assistentin übersetzte. Sie tat es munter und hemmungslos, ein plätschernder Wasserfall, wobei sie die Sätze in einer Art Comicstrip-Sprache kürzte und verdrehte. Wenn sie von dem Komponisten sprach oder das Wort an ihn richtete, fügte sie die Bezeichnung Sensei hinzu, was soviel wie »Meister« oder »Lehrer« bedeutet.
»Sphärenmusik«, sagte sie, »das ist es, was Kawashima-Sensei machen will.
Die Erde dreht sich; macht Musik. Auch die Sterne machen Musik. Griechischer Philosoph wußte das.«
Franca starrte sie an.
»Sie meinen die Sphärenmusik der pythagoreischen Philosophie?«
165
Wiederholtes Kopfnicken. Die schwarzen Haarfedern wippten.
»Jeder Planet hat eigenen Sound. Hängt von Schwere ab. Von Dichtigkeit. Von Form und Bewegung. Von Veränderung der Substanz. Von Geist der Materie. Die neognostische Physik von Princeton und Pasadena, ne?«
»Ich habe schon davon gehört«, sagte Franca, sichtlich überrumpelt.
Kawashima-Sensei lächelte, und Imada-san sprach lebhaft weiter. »Gustav Holst hat solche Intuition schon gehabt. Amerikanischer Komponist, ne? 1964 gestorben.
In Hoists Symphonie Die Planeten kommt gleiches Gefühl vor. Kawashima-Sensei hat das mit Synthesizer gemacht. Seine Komposition heißt Kojiki. Sie kennen doch sicher den Kojiki?«
Ich spürte, wie Franca nervös wurde. Sie starrte die funkelnden Augen an, das flaumige Haar, die biegsamen Kinderhände.
»Nein«, sagte sie, »ich glaube nicht.«
»Oh«, sagte Imada-san, »Kojiki heiliges Buch der Japaner. Kojiki beschreibt…
wie sagt man? Der Anfang?«
»Sie meinen die Schöpfungsgeschichte?«
Imada-san nickte strahlend.
»Ja, ja, Schöpfungsgeschichte! Domo Arrigato. Vielen Dank für richtiges Wort! Also, im Weltall entsteht erste Vibration. Sie haben doch sicher Talmud gelesen, ne? Talmud heiliges Buch der Juden. Talmud sagt: Beim ersten Klang wurden Himmel und Erde bewegt, Berge und… wie heißt es… ach ja, Hügel waren erschüttert. Welt formt sich aus Feuer und Wasser.«
»Sie kennen den Talmud?« Die Überraschung auf Francas Miene brauchte keine Übersetzung.
»O ja, o ja, wichtiges Buch in der Menschheitsgeschichte! « Imada-sans wandelbares Gesicht wurde plötzlich feierlich. »Jedes Volk hat eigene Tradition, ne? Kawashima-sensei sagt, Menschen sind alle gleich. Versuchen zu erklären, was sie nicht erklären können. Irgendwie, mit Lieder oder Märchen. Jedes Volk auf seine Weise. Am Anfang von Himmel und Erde ist ›Nichtsein‹.
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