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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Dann wird erste Vibration geboren. Das Leben beginnt.«
    Ich lächelte Kawashima an. Ich dachte an die O-Daiko, die Riesentrommel.
    Auch sie war ein Ur-Wesen, der Naturkraft entwachsen, eine laute Stille mit einer Donnerstimme. Sie speicherte die Klänge dieser Erde. Von allen Lebewesen flöß ständig etwas in sie hinein. Sie kauerte im Dunkeln, und die Geister schliefen, bis Ken den Schlegel ergriff und sie unter seinen Händen wachrief. Und während ich an ihn dachte, sah ich ihn plötzlich vor mir, sah sein Gesicht, sein langes Haar, seinen langen, schlanken Körper, geschmeidig und stark wie eine Tigerkatze… sah ihn so lebendig, so nah und wirklich, daß ich mir auf die Zähne biß, um nicht aufzustöhnen.
    »Unsere Wahrnehmung ist Resonanz«, sagte Kawashima-Sensei und lächelte jungenhaft. »Unser Inneres besteht aus verschiedenen Schichten: Natur, Leben, 166
    Geisteskraft. Wir alle sind Teile des großen kosmischen Reigens und tragen im kollektiven Unbewußten das Erbe des schöpferischen Ur-Gesanges.«
    »Wir Europäer«, sagte Franca in nüchternem Tonfall, »stehen diesen Dingen wohl etwas kritischer gegenüber.«
    Er lächelte noch breiter, selbstsicher und ungerührt.
    »Ich habe viel darüber nachgedacht. Die Vielfalt der Musik ist mit unseren Schriftzeichen vergleichbar. Wir verfügen über zwei phonetische Schriftformen, das Katakana und das Hiragana, die linear zusammengesetzt werden und den Satz gestalten. Dazu kommen Ideogramme chinesischen Ursprungs, die ihrerseits die Gegenstände verdeutlichen und die Gedanken versinnbildlichen. So lernen wir schon als Kind die Fähigkeiten unseres Gehirns zu nutzen und unsere Sensibilität zu entfalten.«
    »Klingt einleuchtend«, gab Franca zu. »Vielleicht sind asiatische Menschen tatsächlich feinfühliger. Und womöglich täte es uns gut, wenn sie uns ein bißchen sensibilisieren würden.«
    Sie lächelte Kawashima an, aber ich merkte, daß sie ihn nicht richtig verstand.
    Die sichtbare und die unsichtbare Welt, oder besser: die hörbare und die unhörbare.
    Manchen Leuten fiel es schwer, das Vorhandensein jener anderen, der unhörbaren, zuzugeben.
    »Wenn man alle Äußerlichkeiten wegnimmt«, sagte Kawashima, »dann sind wir alle gleich. Wir sind Resonanzbehälter des Kosmos. Der Klang in uns verbindet uns mit den Göttern. Manche empfinden das mehr, andere weniger und einige überhaupt nicht. Das ist der Unterschied.«
    Er sah auf die Uhr. Das Interview war beendet.
    »Ich würde gern eine Ihrer CDs von Ihnen mitnehmen«, sagte Franca und wurde ein wenig rot. »Ich möchte sie gern in meiner Sendung verwenden.
    Natürlich kaufe ich sie Ihnen ab.«
    Der Komponist sah sie an und lachte. In seinen Augen schimmerten Regenbogen. Er sagte ein paar Worte. Imada-san warf ihre Haare aus der Stirn, lachte ebenfalls und hob ihre kleinen weißen Hände.
    »Kawashima-Sensei sagt, die CD schenke er Ihnen als Erinnerung. Er bittet Sie, die Klänge auf sich einwirken zu lassen. Und dann werden Sie in ihrem Herzen spüren, wie die Erde sich dreht und singt.«
    »Eine elektronische Symphonie über die Heilige Schrift! « sagte Franca, als wir das Studio verließen. »Ich wußte nicht einmal, daß Japaner eine haben. Ich dachte, Japan sei ein ziemlich unreligiöses Land, wo man Tempel und Schreine lediglich als Sehenswürdigkeiten besucht.«
    »Ja, ich weiß«, sagte ich.
    »Ich werde aus diesen Leuten nicht klug. Du etwa? Da überschwemmen sie den Weltmarkt mit Erzeugnissen der Supraleitfähigkeit, der Optoelektronik und der Biotechnologie, krempeln mit fuzzygesteuerter Sensorik ganze Industriezweige 167
    um. Und daneben reden sie von Göttern und Geistern, als sähen sie sie leibhaftig vor sich. Wir fürchten die Übertechnisierung wie der Teufel das Weihwasser, sie amüsieren sich wie Kinder.«
    »Ich weiß«, sagte ich.
    »Hör endlich mit deinem ›ich weiß‹ auf! Wir haben Scheuklappen, die Japaner nicht. Das muß doch irgendeinen Grund haben. Aber welchen? Kawashima hat vom Geist in der Materie gesprochen. Wie kann der Geist in der Materie bestehen?
    Das glauben doch nur die Mystiker!«
    »Die Japaner sind Mystiker. Und ohne darüber nachzudenken.«
    »Da scheinst du ja Erfahrungen zu haben. Und wie wirkt sich das im Bett aus?«
    Ich überhörte die Anspielung, und Franca sagte:
    »Wie dem auch sei, wir können nicht unsere 26 Buchstaben durch Ideogramme ersetzen, nur um unser Gehirn zu schulen oder zu irgendeiner metaphysischen Einsicht zu gelangen.«
    Ich

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