Silbernes Band (German Edition)
nebenan, wo ein breites Bett mit Ablagetischen stand. Daneben ein weisser Einbauschrank mit Spiegelfront und ein Schreibtisch. „Schlaf gut, mein Sohn.“
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als Heiðar auch schon allein im Zimmer stand. So war das also, wenn ein Vampir-Vater seinen 32jährigen Sohn ins Bett schickte! Er schüttelte irritiert den Kopf, zog sich aus, hängte seine Sachen über den Stuhl beim Schreibtisch und legte sich in das bequeme Bett. Der blütenweissen Bettwäsche entströmte ein schwacher Hauch von Fionns Geruch. Heiðar stellte sich Rúnas hübsches Gesicht vor und schloss die Augen.
Lebenswende
Er befand sich in dem düsteren Treppenhaus eines Pariser Stadthauses. Ausgetretene Steinstufen wanden sich scheinbar endlos nach oben. Zu beiden Seiten der Treppe war ein verschnörkeltes Geländer angebracht, dessen weisse Farbe da und dort abblätterte. Auf jedem Stockwerk gab es zwei dunkle, abweisende Türen. „Komm zu uns! Beeil dich, mein Liebling“, drang es leise zu ihm hinunter. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, um so schnell wie möglich zu den vertrauten Stimmen zu gelangen.
Allmählich wurde es heller. Das Treppenhaus hatte eine gläserne Kuppel, ein kunstvolles Mosaik aus Buntglas. Er fasste nach dem Geländer, zog sich daran hoch und stiess sich von den Stufen ab, um endlich den obersten Treppenabsatz zu erreichen. Hier gab es bloss eine Tür, sie war weiss gestrichen und stand sperrangelweit offen. Seine Eltern empfingen ihn mit liebevollem Lächeln. „Tritt ein, mein Sohn.“ Fionn fasste nach seinem Arm und zog ihn in eine lichte Eingangshalle. „Wie schön, dass du da bist, mein Liebling.“ Kristín blickte ihm tief in die Augen und strich über seine Wange. Heiðar zuckte zusammen. Ihre Hand war eiskalt und glühend zugleich, in den hellblauen Augen lag ein silberner Schimmer. Das vertraute Lächeln entblösste kräftige Eckzähne. Seine Mutter war ein Vampir, Fionn hatte sie also gerettet. Heiðar spürte eine tiefe Freude. Endlich waren sie eine Familie.
„Komm. Es wartet eine Überraschung auf dich.“ Kristín nahm seine Hand und führte ihn durch die Halle. An deren Ende befand sich eine weisse Doppeltür. „Geh hinein.“ Seine Eltern blieben dicht hinter ihm, als wollten sie verhindern, dass er auswich. Heiðar streckte die Hand nach der goldenen Klinke aus. Bevor er sie berührte, schwang die Doppeltür von selbst auf. Helle Lichtstrahlen fluteten ihm entgegen und blendeten ihn. Er musste für einen Moment die Augen zukneifen. Als er sie vorsichtig blinzelnd öffnete, sah er vor sich eine wunderschöne Frau. Es war Rúna. Sie schwebte lächelnd, in einen duftigen Traum aus weisser Seide gehüllt, auf ihn zu. Heiðar konnte sich nicht rühren. Wie intensiv der goldene Schimmer ihrer Augen war! Im künstlichen Licht der Buchhandlung war ihm das gar nicht aufgefallen. „Willkommen in unserer Welt, Heiðar.“ Ihr Lächeln wurde breiter, sie öffnete den Mund und zeigte ihr tödliches Gebiss. Ihm blieb keine Zeit zu flüchten. Rúna stürzte sich auf ihn und schlug ihm die Zähne in den Hals.
Schreiend warf er sich im Bett herum und riss die Augen auf. „Was für ein absurder Traum!“ Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und liess kurz die gestrigen Ereignisse Revue passieren. Kein Wunder, dass er das Erlebte in merkwürdigen Träumen zu verarbeiten versuchte. Besser, er dachte nicht länger daran, sondern konzentrierte sich auf die Realität.
Sein Vater sass im Wohnzimmer und blätterte leise die Seite eines Buches um. Heiðar sprang aus dem Bett und ging ins Bad. Es gab praktischerweise einen direkten Zugang vom Schlafzimmer, aber vermutlich hätte es Fionn nicht gestört, wenn er nackt durchs Wohnzimmer gegangen wäre. Das Bad war ganz in Schwarz und Weiss gehalten, es gab flauschige weisse Handtücher und sogar Bademäntel. Heiðar ging aufs Klo und stellte sich dann unter die kühle Dusche, um sich auf den neuen Tag einzustimmen. Pünktlich um Acht musste er in Breiðholt sein, um seine Schüler mit der Interpretation der Saga von Gunnlaug Schlangenzunge zu quälen. Es erschien ihm unwirklich, hier in diesem schicken Hotelzimmer unter der Dusche zu stehen, während nebenan sein Vater ein Buch las. Aber dies war kein Traum! Sein Leben hatte sich von einem Tag auf den anderen drastisch verändert. Es gab tatsächlich solche Tage, an denen jede Menge bedeutsame Dinge passierten. Heiðar drehte das Wasser ab und
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