Silbernes Band (German Edition)
stieg aus der Dusche. Er rubbelte sich trocken, liess das Handtuch zu Boden fallen, ging ins Schlafzimmer und zog sich rasch an. Bevor er die Tür zum Wohnzimmer öffnete hielt er einen Moment inne.
Fionn blickte von seinem Buch auf. „Guten Morgen. Du bist bestimmt hungrig. Bedien’ dich“, forderte er ihn auf und wies zu einem weiss gedeckten Tisch, wo ein reichhaltiges Frühstück aufgetragen worden war. Heiðar setzte sich, schenkte Kaffee ein und schaufelte einige Löffel Müsli in eine Schale. Fionn erhob sich geschmeidig vom Sofa und sass ihm im nächsten Moment gegenüber. „Du hast vorhin geschrien. Ein böser Traum?“ - „Ja. Es war absolut verrückt. Gestern ist wohl einfach zu viel passiert. Ich muss das alles erst mal verdauen und ordnen.“ - „Es war auch für mich ein bedeutsamer Tag.“ Heiðar wollte nicht näher auf den wirren Traum eingehen. Womöglich brachte das Fionn auf komische Ideen. „Ich muss nachher zur Arbeit. Um Acht fängt die Schule an.“ - „Natürlich. Ich würde dich gerne wiedersehen. Heute Abend vielleicht?“ – „Komm doch bei mir vorbei. Wo ich wohne weisst du ja schon“, schlug Heiðar vor. In der vertrauten Umgebung fiel es ihm bestimmt leichter, sich mit Fionn zu unterhalten. Der Gedanke, dass sein Vater ihn erstmals offiziell zu Hause besuchte, gefiel ihm ausserordentlich. „Sehr gerne. Sag mir einfach, um welche Zeit ich da sein soll“, erwiderte Fionn mit einem feinen Lächeln. „Acht Uhr? Dann bleibt mir nach der Arbeit genügend Zeit, um Kristín zu besuchen. Zum Abendessen muss ich dich wohl nicht einladen“, stellte er grinsend fest. „Bitte erspar mir das!“
Heiðar wollte seiner Mutter vorerst noch nichts erzählen. Er redete sich ein, dass er deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, schliesslich hatte Kristín ihm jahrelang den Vater vorenthalten. Er wollte Fionn möglichst unbelastet kennenlernen, wollte sich selbst ein Bild von ihm machen. Heiðar schenkte nochmals Kaffee ein und nahm sich zwei Scheiben Toast. Es störte ihn nicht sonderlich, dass Fionn ihm fasziniert dabei zusah, wie er mit grossem Appetit frühstückte.
Seine innere Uhr zeigte Viertel nach Sieben. „Vielen Dank fürs Frühstück. Ich muss nach Hause, um den Wagen und meine Sachen für den Unterricht zu holen.“ Er stand auf und ging von Fionn begleitet zur Garderobe, wo er Jacke und Schuhe anzog. Sollte er ihm zum Abschied die Hand reichen, oder ihn gar umarmen? Fionn nahm ihm diese Entscheidung ab, indem er ihn ganz kurz an sich drückte. „Bis heute Abend mein Sohn, ich freue mich!“ Heiðar durchströmte ein wunderbar warmes Glücksgefühl. „Bis dann, Fionn!“
Der Tag kroch endlos lang dahin. Heiðar fühlte sich so, wie seine Schüler sich zuweilen fühlten. Er konnte es kaum erwarten, bis die Klingel das Ende des Schultags verkündete. Nach der letzten Stunde stand ihm leider noch eine langweilige Sitzung des Lehrerkollegiums bevor. Es half auch nichts, dass Helga, die neue Lehrerin für Englisch, ihm ständig eindeutige Blicke zuwarf. Zugegeben, sie sah ziemlich gut aus: Lange Beine, gute Figur. Vielleicht etwas zu blond, und vor allem benutzte sie ein schreckliches Parfum (Vanille!) und davon auch noch zu viel. Er ignorierte sie, so gut es ging, schenkte ihr bloss ein gequältes Lächeln, was sie zum Anlass nahm, ihn am Ende der Sitzung vor der Tür abzufangen.
„Na Heiðar, hast du heute schon was vor?“ Der künstlich-süsse Vanilleduft liess ihn unbewusst zurückweichen. „Kommst du mit auf einen Kaffee?“ Helga folgte seiner Bewegung, hob dabei die Hände, als wollte sie ihn sich krallen. Der Flur war leer, alle Kollegen schon weg, warum eigentlich nicht?
Ihre Pupillen erstarrten, als er ihr tief in die Augen blickte. „Du bist nicht interessiert an mir und möchtest auch nicht mit mir ausgehen. Dein Parfum riecht einfach schrecklich, du musst es in den Müll werfen!“ Nachdem er den Blickkontakt unterbrochen hatte, fragte sich Helga, was sie hier mit Heiðar auf dem Flur machte. Er war ein furchtbarer Langweiler, mit dem würde sie auch nicht ausgehen, wenn sie total verzweifelt war. Ausserdem musste sie gleich nach Hause, sich unter die Dusche stellen, um dieses scheussliche Parfum abzuwaschen. Sie kriegte Kopfschmerzen von dem grässlichen Vanilleduft und nahm sich vor, den Flakon in den Abfalleimer zu schmettern. „Tschüss Helga, bis morgen!“
Nachdem er flugs einen Stapel Aufsätze korrigiert
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