Silbernes Band (German Edition)
hatte, fuhr er ins Krankenhaus. Der Besuch bei Kristín verlief wie unzählige davor. Sie waren wieder zur Tagesordnung zurückgekehrt, tranken dünnen Kaffee und unterhielten sich. „Was hast du heute in der Schule gemacht?“ – „Die Schüler im ersten Jahr beschäftigen sich mit der Saga von Gunnlaug Schlangenzunge . Sie mussten eine Interpretation schreiben.“ – „Das hat wohl wenig Anklang gefunden?“ Er zuckte grinsend die Schultern. „Du weisst ja, als Lehrer ist man oft Spielverderber und Plaggeist. Ich kann damit umgehen, obwohl es schön wäre, wenn ich alle Schüler im selben Mass für die Sagas begeistern könnte.“ – „Mich könntest du leicht begeistern. Erzählst du mir wieder einmal die Geschichte, die du selbst erfunden hast? Die von Sólrún und Kjartan.“ – „Die hab ich nicht selbst erfunden – ich habe sie geträumt.“ – „Spielt das eine Rolle?“ – „Nein, natürlich nicht, es war bloss seltsam. Als ich an jenem Morgen erwachte, hatte ich die Geschichte Wort für Wort im Kopf und vor allem wusste ich, dass ich in Island studieren würde.“ – „Ich erinnere mich. Davor hast du ständig davon gesprochen, dass du in Kopenhagen studieren möchtest – oder an der Pariser Sorbonne! Ich hätte dich jahrelang kaum noch zu Gesicht bekommen.“ Er spürte noch heute ihre Erleichterung. „Wenn du magst, erzähl ich dir die Geschichte jetzt gleich“, schlug er vor. Auf diese Weise brauchte er nicht über Fionn zu sprechen.
Die Liebesgeschichte, die zur Zeit der Landnahme spielte, entführte Kristín für eine Weile aus ihrer Krankheit. Das ausgezehrte Gesicht begann zu leuchten, als sie den Strophen lauschte, die Kjartan seiner Geliebten widmete. Er musste sich anstrengen, sie von seinen guten Absichten zu überzeugen, und er musste geduldig sein. Zum Schluss schenkte sie ihm sein Herz, und sie wurden sehr glücklich miteinander.
„Und so endet diese Geschichte“, schloss Heiðar seine Erzählung. „Wie schön du das wiedergeben kannst, vielen Dank, mein Liebling.“ Sie drückte seine Hand, er lächelte liebevoll. „Und wie läuft es bei dir? Isst du auch regelmässig?“ – „Die geben sich hier wirklich sehr viel Mühe mit dem Essen. Ich habe wieder etwas mehr Appetit, hoffentlich schaffe ich es ein paar Pfund zuzunehmen.“ – „Was ist mit dieser neuen Krankenschwester? Ist sie immer noch so schnippisch? Soll ich mal mit ihr reden?“ – „Nein, das brauchst du nicht. Sie ist jetzt viel freundlicher, ich glaube Birna hat ihr beigebracht, wie man sich zu verhalten hat.“
Es war, als hätte es den gestrigen Besuch gar nicht gegeben. Heiðar war es ganz recht, dass seine Mutter nicht darauf zurückkam, und sie war offensichtlich froh darüber, dieses heikle Thema ausklammern zu können. „Du kriegst gleich Abendessen, ich geh dann wieder.“ Er beugte sich zur ihr und drückte seine Lippen auf ihre Stirn. „Mach’s gut, mein Liebling.“ – „Ciao, Mama, guten Appetit.“ Er war rechtzeitig an der Tür, um der Pflegerin, die das Tablett für Kristín in den Händen trug, zu öffnen. Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln, er hob kurz die Hand und eilte mit langen Schritten zur Treppe.
Zu Hause stellte er fest, dass im Kühlschrank gähnende Leere herrschte, er musste wohl oder übel einkaufen. Am Skólavörðustígur gab es ein kleines Lebensmittelgeschäft. Heiðar richtete es so ein, dass er auf dem Weg zum Supermarkt bei der Buchhandlung vorbeikam. Fast glaubte er, von weitem Rúnas Herzschlag zu hören. Er folgte dem imaginären Ruf und steuerte automatisch auf das hässliche Gebäude mit dem zauberhaften Inhalt zu. Es gab keinen Grund hineinzugehen, Heiðar wollte bloss durchs Schaufenster einen Blick auf sie erhaschen.
Rúna befand sich hinter der Theke und bediente die Kasse. Vier Kunden standen in der Warteschlange davor. „Viel Spass beim Lesen!“ Sie hatte für jeden ein paar freundliche Worte übrig, dazu dieses unwiderstehliche Lächeln. Stimme und Herzschlag verzauberten ihn. Es reichte nicht, sie bloss zu sehen und zu hören, er wollte vor allem auch ihren köstlichen Duft in sich aufnehmen. Heiðar fühlte, wie die Vampirseite die Kontrolle zu übernehmen versuchte, als er die Tür öffnete und das Geschäft betrat. Er nahm das Raubtier an die Kette und konzentrierte sich darauf, langsam in Richtung der Kassentheke zu gehen. Der Blutdurst quälte ihn nicht weniger als gestern, deshalb versuchte er, möglichst
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