Silberstern Sternentänzers Sohn 01 - Der geheimnisvolle Hengst
erklärte sie rasch und eilte davon. Sie war momentan absolut nicht in der Stimmung, sich mit Rocco zu unterhalten.
Annit lief um das Zelt herum. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Der Junge stand bei den Pferden und sprach mit ihnen. Sie bedauerte, dass sie aus der Entfernung nicht verstehen konnte, was er sagte. Erst jetzt fiel ihr seine schäbige Kleidung auf. Er trug ein viel zu weites Hemd, und auf seiner Hose, die mindestens eine Nummer zu groß für ihn war, entdeckte sie lauter verschiedenfarbige Flicken.
Annit näherte sich ihm vorsichtig. Doch plötzlich horchte der Junge auf und drehte sich abrupt um. Für einen Augenblick sah er sie mit eindringlichem Blick an. Als Annit aber noch einen Schritt auf ihn zumachte und ihn ansprechen wollte, rannte er davon - so schnell, dass sie fast glaubte, er wäre vom Erdboden verschluckt worden. Entgeistert starrte Annit in die Richtung, in die er verschwunden war. Wie in meinem Traum, dachte sie. Da hat er sich auch plötzlich in Luft aufgelöst, als ich näher gekommen bin.
Annit ging zu Silberstern. Doch in Gedanken war sie immer noch bei dem Jungen. Was hat er bloß hier bei den Pferden gewollt? Und was hat er ihnen erzählt?, überlegte sie, während sie sich in das weiche Fell des Hengstes schmiegte. „Wenn du nur reden könntest, Silberstern“, murmelte sie. „Dann könntest du mir jetzt berichten, was er gesagt hat.“ Sie liebkoste Silbersterns weiche Ohren. „Aber vielleicht verrätst du es mir ja in einem meiner nächsten Träume, mein Kleiner.“
Inzwischen hatte Annit sich etwas an den Gedanken gewöhnt, dass Silberstern ein magisches Pferd war. Er verfügte über die außergewöhnliche Gabe, Gefahren im Voraus zu erkennen, und Annit war die Auserwählte, die seine verborgenen Kräfte nutzen konnte. Ihr teilte er sich über ihre Träume mit. Es würde mich schon arg interessieren, wie Silberstern das macht? Woher weiß er immer so genau, dass ein Unheil passiert?, überlegte sie. Obwohl sich einige ihrer Träume bereits bewahrheitet hatten, konnte Annit sich immer noch nicht so recht vorstellen, wie das Ganze eigentlich funktionierte.
„Bist du fertig?“, riss Roccos Stimme sie plötzlich aus ihren Gedanken. „Du weißt doch, dass wir gleich alle in die Stadt fahren wollen.“
„Komme sofort“, rief Annit zurück. Sie hatte völlig vergessen, dass Pawell sie eingeladen hatte. Er wollte ihnen den Lazienki-Palast und den Park zeigen.
Für einen Moment flammte der verrückte Gedanke in ihr auf, dass sie dem Jungen dort vielleicht wieder über den Weg laufen könnte. Obwohl sie natürlich wusste, wie unwahrscheinlich das in einer so großen Stadt wie Warschau war.
Schnell flitzte Annit in ihr kleines Zelt, um sich umzuziehen. Sie entschied sich für die Bluse mit den kleinen, bunten Blümchen, die ihr recht gut stand. Dazu ein langer, hellblauer Sommerrock mit silbern glitzernden Pailletten und Sneakers.
„Du willst doch wohl den Jungs in Warschau nicht den Kopf verdrehen“, meinte Rosalia schmunzelnd, als Annit sich neben sie auf den Rücksitz des Wagens fallen ließ.
José, der am Steuer saß, drehte sich um und betrachtete Annit neugierig an. „Alle Achtung!“, lobte er anerkennend. „Du siehst ja noch hübscher aus als sonst.“
Annit fuhr sich verlegen durch die Haare. „Die anderen Sachen waren so zerknittert“, erklärte sie ausweichend. „Außerdem, wenn wir schon so einen königlichen Palast besuchen, dann kann ich doch nicht in meiner ältesten Jeans auftauchen.“
José zwinkerte ihr zu. „Auf keinen Fall“, bestätigte er in gespieltem Ernst. „Was sollte denn auch der Prinz sagen, wenn er gerade zufällig um die Ecke kommt?“
Rosalia gab ihrem Mann einen leichten Klaps auf die Schulter. „Jetzt red kein dummes Zeug, José. Fahr lieber los.“
Annit war froh, dass Rosalia das Thema damit beendet hatte. Versonnen schaute sie aus dem Fenster, als der Wagen über den Feldweg Richtung Hauptstraße holperte. Sie versuchte sich abzulenken, indem sie die vielen hohen Pappeln zählte, die den Weg säumten. Doch es wollte ihr nicht gelingen. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu dem fremden Jungen. Was hat er nur an sich, dass ich immer wieder an ihn denken muss? Sicher, er ist recht
hübsch, sieht sogar leicht verwegen aus, gestand sie sich ein. Aber das allein ist es nicht. Irgendetwas in seinem Blick kommt mir so vertraut vor.
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