Silence
Stromstöße durch den Körper. Allmählich beruhigte sich mein Puls. In meinen Fingern verspürte ich ein Ziehen. Und von jetzt auf gleich wurde mir mit Grausen bewusst, dass es wahr war. Ich würde mich wirklich in einen Werwolf verwandeln. Es war kein Traum mehr, nicht mehr nur eine Vermutung, sondern die unumstößliche Wahrheit. In mir lauerte eine Bestie. Ein Monster, das ich nicht kannte, über das ich gar nichts wusste. Ich konnte nur hoffen, dass Ermanos Freund mir wirklich helfen konnte, sonst war ich verloren. Plötzlich wurde mir klar, dass so verhasst mir dieses dubiose Internat auch war, es hätte mir durch diese Wandlung helfen können. Aber niemals wieder wollte ich mit einer Gesellschaft zu tun haben, die ihre Kinder so behandelte.
»Ein Glas Wasser bitte«, hörte ich Ermano sagen.
Der Wagen mit den Getränken wurde weiter gefahren. Das schloss ich aus dem leisen Klirren von Glas und weil sich das Geräusch langsam entfernte. Dann wieder die Frage – diesmal hinter uns: »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«
Ermanos Hand schob sich unter die Lederjacke auf meinem Schoß. Seine Finger tasteten meine ab. »Okay. Ich denke, es ist überstanden.«
Entweder hatte Giovanni die Entwarnung nicht gehört, oder er hatte einfach keine Lust aufzuhören. Auf jeden Fall lösten sich seine Lippen nicht wieder von meinen. Seine Zunge strich aber wie zur Kontrolle über meine Zähne, bevor sie sich weiter meiner Mundhöhle widmete.
Einige Sekunden genoss ich Giovannis Kuss noch, bevor ich mich von ihm löste. Mein erster Blick galt meinen Händen, die wieder aussahen wie eh und je – inklusive der abgeknabberten Fingernägel.
»Das war mehr als knapp.« Ermano kontrollierte mit einem prüfenden Blick meine Augen. »Die Wandlung lässt nicht mehr lange auf sich warten. Geht es dir gut?«
Ich nickte und schluckte einen Kloß im Hals runter.
»Vielleicht solltest du dich etwas ablenken. Negative Gedanken sind das, was wir gerade nicht brauchen, cara mia.« Giovanni fischte ein abgegriffenes Exemplar von Sturmhöhe aus seinem Rucksack. Mit argwöhnisch gerunzelter Stirn nahm ich das Buch und lehnte mich gegen Giovannis Schulter.
»Du liest Sturmhöhe? Versteh mich nicht falsch, aber du wirkst auf mich nicht wie jemand, der viel liest. Nicht dass ich damit sagen will, dass du dumm bist.«
»Zu meiner Zeit gab es noch keine Kästen, in denen Bilder zum Leben erwachen. Da griff man dann zum Buch«, sagte Giovanni beleidigt.
Kichernd schlug ich die erste Seite auf. Sturmhöhe wäre nicht meine erste Wahl gewesen, aber mir war alles recht, um nicht an das denken zu müssen, was eben geschehen war. Das leise Pulsieren in meinen Händen sollte mich aber noch die nächsten Stunden begleiten und mir immer wieder die Bilder in mein Gedächtnis zurückrufen, wie meine Finger sich langsam verformten und meine Nägel zu Wolfskrallen mutierten.
In meinem Kopf begann Giovanni, leise Sturmhöhe zu lesen. Der sanfte, monotone Klang seiner Stimme ließ mich immer mehr abtreiben, bis ich dann endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.
Im Traum sah ich meine zwei Lieblingsvampire durch einen saftig grünen Wald rennen. Sie flohen vor etwas - oder jemandem. Immer wieder drehte sich einer von beiden um, die Augen auf den unbekannten Verfolger gerichtet, der sich ebenso schnell zu bewegen schien wie die Vampire. Zu Beginn meines Traums war es noch so, als wäre ich der unbeteiligte Beobachter dieser Hetzjagd. Irgendwann schlüpfte ich in den Körper des Verfolgers. Ich sah durch seine Augen, fühlte seinen Herzschlag, roch den harzigen Geruch des Waldes durch seine Nase.
Etwas an der Art, wie der Unbekannte sich bewegte, war verwirrend. Er schien auf allen Vieren zu laufen. Wie um mir meine Vermutung zu bestätigen, senkte das Wesen seinen Blick auf seine Vorderpfoten. Zwei mächtige Pranken, über und über mit Fell bedeckt in der Farbe eines wolkenverhangenen Winterhimmels.
Sanft und geräuschlos kamen die Pfoten, im völligen Gleichklang mit dem Herzschlag des Wesens, auf dem weichen Waldboden auf. Durch die fremden Ohren konnte ich die regelmäßige Atmung hören. Alle Sinne waren auf die Beute vor ihm gerichtet. Sein Denken galt nur dem einen Ziel – Jagen.
Irgendwoher wusste ich, dieses Wesen würde erst aufgeben, wenn es seine Beute erlegt hatte. Nicht um zu fressen. Nur um zu töten. Angetrieben vom Jagdinstinkt.
Ermano rannte rechts. Giovanni links. Ermano schlug einen Haken. Giovanni blieb ganz plötzlich stehen. Das
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