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Silentium

Silentium

Titel: Silentium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Haas
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hat. Und er hat nicht mitgekriegt, wie sie ihn im Marianum in den Krankentrakt hinaufgeschleppt haben.
    Das war gar nicht so einfach, weil der Krankentrakt im Marianum weit weg von den Schlaf- und Studierräumen, und ob du es glaubst oder nicht, in den ist man nur durch die Dachkirche gekommen, und dann hinter der Kirchensakristei wieder einen halben Stock hinunter, dann war man im Reich der Kranken. Und wenn so ein Marianumskind krank geworden ist, hat es sich zuerst einmal die vier Stockwerke in den Dachboden hinaufkämpfen müssen, dann die gespenstisch leere Kirche durchqueren, und die letzte Stiege in den Krankentrakt hat man sich dann notfalls ja auch hinunterfallen lassen können.
    Aber der Brenner hat sich schön tragen lassen, der Sportpräfekt und der Haustischler haben ihn gemeinsam geschleppt. Im Krankentrakt hat man ihn in so eine Art Militärbett gelegt, aber nicht Weltkrieg, sondern das muß schon mindestens, sagen wir, Napoleonzeit gewesen sein oder meinetwegen Kreuzzüge. Und die Krankenschwester ist noch älter als das Militärbett gewesen, weil Runzeln im Gesicht wie diese Schießscharten in den alten Burgen. Aber trotzdem immer noch flott unterwegs wie die reinste Kanonenkugel, besser kann man es nicht ausdrücken.
    Und tonmäßig auch mehr Feldwebel als Krankenschwester. Weil wenn ich gesagt habe, hinter der Dachkirche war das Reich der Kranken, dann nicht ganz richtig ausgedrückt, weil eigentlich das Reich der Krankenschwester, sprich Geisterreich. Weil sie war ja die einzige Schwester im Marianum, darum Schwester und Mutter Oberin in einer Person, alle Kolleginnen schon vor Jahren befördert, praktisch noch einen Stock höher als Dachkirche.
    Und auch wieder nicht ganz richtig ausgedrückt. Weil daß es im Krankentrakt ein bißchen jenseitig zugegangen ist, war weniger die Schuld der Mutter Oberin. Da muß ich ganz ehrlich sagen, das war eigentlich mehr dem Brenner seine Schuld.
    Weil sein Fieber ist genauso schnell verschwunden, wie es gekommen ist. Am nächsten Tag war er schon wieder komplett fieberfrei. Aber so was hat die Mutter Oberin in ihren hundertfünfzig Dienstjahren noch nicht erlebt! Obwohl der Mann fieberfrei war, hat er weiter simuliert, als hätte er Fieber. Der Brenner ist einfach Tag für Tag in seinem Bett liegen geblieben, hat die Zimmerdecke studiert und mit niemandem auch nur ein einziges Wort geredet. Und dabei ist auf der Zimmerdecke gar nicht «Silentium!» gestanden. «Silentium!» ist ja handgestickt und schön eingerahmt neben der Tür gestanden. Und noch dazu falsch geschrieben, weil «Silenzium!», das muß einmal ein Schüler gewesen sein, der lieber gestickt als Latein studiert hat.
    Aber der Brenner hat die Stickerei nicht eines Blickes gewürdigt, weil nur Zimmerdecke interessant. Und Tür nur Störungen des heiligen Friedens, nur störendes Aus-und-Ein-Huschen der ewig flüsternden und wispernden Mutter Oberin.
    Also keine große Sympathie zwischen den beiden Personen, das muß ich ganz ehrlich zugeben. Fast möchte ich sagen, ein bißchen negative Energie zwischen dem schweigenden Mannsbild und dem wispernden Gespenst in Klostertracht. Und jeden Tag hat die Klosterschwester ihrem fieberfreien Patienten seine Kopfkissen noch ein bißchen zackiger aufgeschüttelt, aber der Brenner keinen Mucks. Er hat sie nicht einmal bemerkt. Und er hat mit niemandem geredet. Nicht mit der Mutter Oberin, nicht mit der Polizei, nicht mit dem Regens.
    Ich stelle mir das vor wie bei einem Elektrogerät. Daß irgendein Kontakt sich löst, dann kannst du dich auf den Kopf stellen, das Gerät geht nicht mehr, obwohl es äußerlich vollkommen intakt wirkt, und so einen Effekt muß das Erlebnis in Petting auf den Brenner gehabt haben.
    Ich muß zur Verteidigung der Schwester sagen: Sie hat geglaubt, der Brenner ist nur ein bißchen in den Regen gekommen, mehr hat man ihr nicht gesagt. Sie hat ja überhaupt keine Vorstellung gehabt, daß der Brenner da oben nicht nur die Zimmerdecke sieht, sondern praktisch Kinoleinwand. Sie hat ja nicht wissen können, daß der Brenner auf dem Plafond immer wieder sieht, wie das Küchenmädchen dampft.
    Und sie hat nicht wissen können, daß der Brenner da oben die Wohltätigkeitsrede des Monsignore Schorn sieht. Schön säuberlich getippt, mit ein paar handschriftlichen Korrekturen am Rand. Genau so, wie er sie auf der Rückfahrt von Petting im Auto des Präfekt Fitz herumliegen gesehen hat. Weil nicht nur Politiker lassen sich ihre Reden von

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