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Silentium

Silentium

Titel: Silentium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Haas
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ist, wie wenn du monatelang keinen Zucker ißt, da kriegst du auch irgendwann keinen Kuchen mehr hinunter, ohne daß dir die Zunge am Gaumen kleben bleibt, und das ist wieder ganz ähnlich dem Gefühl, wenn du mit 40 Grad Fieber versuchst, «René» zu sagen.
    Wie das Rascheln endlich aufgehört hat, hat er wieder den Regens in seinem Kopf gehört: «Der Bischof hat ihn mehrmals aufgefordert, die illegale Beziehung zu unserem minderjährigen Küchenmädchen Mary abzubrechen. Tragischerweise stellte sich heraus, daß er das Mädchen wirklich liebte. Sonst hätte der alte Mann wohl kaum das Institut aufgegeben, um das Mädchen zu heiraten. Er hat die Stadt verlassen und ihren Namen angenommen. Das ist alles lange her, und der arme Dr. Phil. Guth ist schon seit Jahren tot. Und die Mary ist jetzt auch tot. Doch sein Institut floriert hervorragend. Das war seine Leistung, er hat es aufgebaut. Es sind die Werke, die von einem Menschen bleiben. Das ist der wichtigste Glaubensgrundsatz, der uns von den lutheranischen Glaubensfrömmlern unterscheidet. Die Werke zählen. Nicht der Glaube. Die Werke.»
    Jetzt hat ihn schon wieder das Rascheln vor der Zimmertür aus seinen Gedanken gerissen. Unglaublich, daß so eine dürre Klosterschwester bei jeder Bewegung so laut rascheln kann! Er ist wütend aufgesprungen, damit er endlich nachschauen kann, was die Schwester da draußen eigentlich macht. Natürlich nach einer Woche Bettruhe derart schwach auf den Beinen, daß er sich sofort am eisernen Bettrahmen festgeklammert hat. Aber er hat es jetzt wissen müssen. Weil wenn du wenigstens weißt, wo ein Rascheln herkommt, macht es dich schon nicht mehr so verrückt.
    Er hat die Tür aufgerissen, und dann ein Schrei, wenn du dir dein Bein vorstellst, das besteht ja nicht nur aus Fleisch, da ist innen der Knochen, und der Knochen besteht auch nicht nur aus Knochen, sondern da ist innen das Mark, und wenn du dir jetzt einen Schrei vorstellst, der dir da hineinfährt wie eine Rasierklinge, durch Mark und Bein, wie man so schön sagt, so ein Schrei ist das gewesen.
    Aber nicht von der Mutter Oberin und auch nicht von dem Skelett, das da am Gang gestanden ist, praktisch medizinische Demonstration, und wir beten nicht nur für deine Gesundheit. Der Schrei ist von dem Sandler gekommen, der gerade den Schrank auf der Krankenstation durchsucht hat. Du mußt wissen, Sandler haben ja oft furchtbar schlechte Nerven, weil keine Vitamindrinks, keine Spurenelemente, keine Mineralstoffe, jetzt hat der diesen fürchterlichen Schrei abgelassen, nur weil hinter ihm eine Tür aufgegangen ist, obwohl er vorher die Mutter Oberin weggehen gesehen hat.
    «Mensch, hast du mich erschreckt!» hat der Dieb den Brenner angefahren. «Hast du mich erschreckt!» Aber er war mehr erleichtert als böse, weil er den Brenner auch für einen Sandler gehalten hat. Und wenn der Brenner vorher in den Spiegel geschaut hätte, hätte er auch verstanden, wieso. Nach einer Woche im Bett siehst du eben nicht aus, als wenn dich deine Mutti gerade frisch gekämmt in den Erstkommunionsanzug gesteckt hätte.
    «Was machst du denn da?» hat der Brenner gefragt. Die ersten Worte nach einer Woche, da war seine Stimme ein bißchen wie das ganz grobe Schleifpapier von seinem Großvater.
    Und der andere mit leuchtenden Augen, quasi von Kollege zu Kollege: «Schau dir das einmal an! Schau dir das an.»
    Er hat auf den offenen Schrank gedeutet, den er gerade durchwühlt hat. Aber nicht Medikamente. Der Schrank war von oben bis unten vollgestopft, aber nicht eine einzige Tablette.
    «Plastiktaschen?» hat der Brenner sich gewundert. Da hat ihm vielleicht wirklich ein bißchen die Begeisterungsfähigkeit gefehlt, weil im Lauf der Jahrzehnte haben die Klosterschwestern hier das reinste Plastiktaschen-Museum angelegt.
    «Alte!»
    «Verstehe», hat der Brenner verständnislos gesagt.
    «Alte Plastiktaschen! Zwanzig, dreißig Jahre alte sind da darunter!»
    Der Brenner hat es immer noch nicht kapiert, und das hat ihn natürlich verraten. Weil wenn du dir als Obdachloser auch die letzten Hirnzellen wegsäufst, eines vergißt du nicht: Daß die alten Plastiktaschen um Eckhäuser besser sind als die neuen, weil natürlich, der Umweltgedanke hat die Plastiktaschen ruiniert.
    «Wer bist denn du? Wer bist du denn überhaupt?» hat der Sandler mißtrauisch gefragt.
    «Paß auf, wenn du mir das mit den Plastiktaschen genau erklärst, laß ich dich gehen, ohne daß die Mutter Oberin was erfährt.» Schön

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