Silenus: Thriller (German Edition)
Kopf hängen, so, als wäre er traurig. Dann ging er weiter.
Diese Geste kannte George nur zu gut; er sah sie jeden Tag. Der Mann konnte nur sein Vater sein.
In seiner Trunkenheit nahm George an, er wäre in die falsche Richtung gelaufen und hätte seinen Vater aus seiner Bürotür kommen gesehen. Der Geruch, den er wahrgenommen hatte, musste von Colettes letztem Besuch in dem Büro stammen. Doch als er seinem Vater aus Neugier folgte, erkannte er, dass die große schwarze Tür auf der anderen Seite des Hotels war. Wortlos und still betrat sein Vater das Büro. Aber aus wessen Zimmer war er dann gekommen, fragte sich George. Wen hatte er besucht?
Als er aber auf Zehenspitzen zu der Zimmertür zurückschlich, erkannte er, dass der Duft von Colettes Parfüm nun stärker war, so, als wäre sie selbst dort entlanggegangen. Aber nur sein Vater hatte sich in dem Korridor aufgehalten. Hatte Harry Colettes Parfüm benutzt? Nein, dachte George. Das wäre absurd. So etwas würde er nie tragen, es sei denn …
Es sei denn.
Es sei denn, es sei denn, es sei denn.
Vielleicht hatte er sich doch nicht geirrt. Vielleicht war dies Colettes Zimmer.
George fühlte, wie seine Knie nachzugeben drohten. Plötzlich erinnerte er sich, wie Colettes Augen geglänzt hatten, als sie von Harrys Plan erzählt hatte, sie als Prinzessin herauszuputzen. »Klugschwätzer«, hatte sie ihn liebevoll genannt, den Kopf geschüttelt und gelächelt. Ihm kam in den Sinn, dass Colette und Harry ständig zu streiten schienen, dass sie einander gegenseitig davonzerrten, um sich zu kabbeln, und dann war da noch der kindische Kosename, mit dem Harry sie ansprach: »Lettie«. Und sie war so wütend gewesen, als sie erfahren hatte, dass Harry ein Kind hatte. Und dann war da noch die viele Zeit, die sie und Harry gemeinsam in seinem Büro verbrachten, um über das Geschäft zu sprechen und über die Finanzen …
Aber taten sie das auch? Taten sie das wirklich? Was könnten sie wohl sonst tun, wenn sie unter sich waren?
»Oh, nein«, flüsterte George. »Das … das kann nicht sein. Es kann nicht sein.«
Er ging weiter, stellte sich vor die Tür, wünschte sich, anzuklopfen und sie anzuflehen, ihm zu sagen, dass dem nicht so sei, nicht so sein konnte. Doch vor ihrer Tür war der Duft ihres Parfüms berauschender denn je, und er wusste, es musste in die Haut seines Vaters eingedrungen sein …
»Nein«, wimmerte George. »Nein, nein.«
Wie im Traum trottete er zurück zu seinem Zimmer. Er erinnerte sich daran, wie unwillig sie sich stets gezeigt hatte, ihn zu berühren oder in seiner Nähe zu sein, wie verlegen sie reagiert hatte, als er ihr auf dem Dach seine Liebe gestanden hatte.
Es lag nicht daran, dass sie ihn nicht liebte. Es lag daran, dass er der Sohn ihres Liebhabers war. Schon die Vorstellung, zwischen ihnen könnte es so etwas wie Liebe geben, war pervers.
George ging in sein Zimmer und schloss die Tür. Er trank noch einen gut gefüllten Becher mit Whiskey, legte sich bäuchlings auf das Bett und schrie in sein Kissen.
25
DAS HAUS AUF DEM HÜGEL
Weit vor Sonnenaufgang klopfte Stanley an Georges Tür, öffnete und schaute zögernd herein. Als er sah, dass George ihn anblickte, das Gesicht verhärmt, die Augen vom Weinen verquollen und umrahmt von dunklen Ringen der Erschöpfung, zog sich Stanley erschrocken ein wenig zurück, winkte dann aber, und George nickte. »Schon gut«, sagte er. »Schon gut.«
Alle standen auf und nahmen, angetan mit ihrem besten Staat, eine Straßenbahn, die sie in die Außenbezirke der Stadt brachte. »Oje, George«, sagte Franny zu ihm. »Du siehst beinahe so schlimm aus wie ich.« Dann lächelte sie schwach.
»Hab nicht geschlafen«, sagte George.
»Schlimm, nicht wahr?« Ihre Augen schweiften ab, und sie fing an, unmelodisch vor sich hin zu summen.
»Warum zum Teufel hast du nicht geschlafen?«, fragte Silenus. »Ich habe dir doch gesagt, wir müssen ausgeruht sein.« Aber George konnte seinen Vater nicht einmal ansehen, geschweige denn ihm antworten.
Silenus trug einen kleinen Segeltuchbeutel bei sich und sah ständig auf seine Taschenuhr. »Ich glaube, ich weiß, wo wir hinmüssen«, sagte er. »Aber wir werden ein wenig herumwandern müssen, um die richtige Stelle zu finden.«
»Du weißt gar nicht, wo diese Leute sind?«, fragte Colette.
»Ich weiß, wo sie sind, aber zu ihnen zu gelangen, ist etwas anderes«, sagte Silenus. »Man muss sich auf die richtige Weise nähern. Wir brauchen den
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