Silenus: Thriller (German Edition)
musterte das zerbrochene Glas. Dann befahl sie: »Schenk so ein, dass wir es sehen können. Ich bin bereit, dir diesen letzten Wunsch zu gewähren, aber sollte ich auch nur den kleinsten Hauch eines Tricks wahrnehmen …«
»Ich habe keine Tricks mehr übrig«, sagte Silenus. »Ich weiß, ich werde heute sterben.«
Er schloss die Truhe und setzte sich auf den Deckel. Er war nun so nahe, dass George der Scham nicht mehr gewachsen war. »Es tut mir so leid, Harry!«, rief er.
Silenus sah ihn an und zog fragend eine Braue hoch.
»Ich … ich wusste, was sie vorhatte«, bekannte er. »Anne oder Franny, meine ich. Ich dachte … ich habe deiner Art, die Truppe zu leiten, nicht getraut, und ich dachte … ich dachte, ich würde dich hassen. Das habe ich wirklich. Es tut mir so leid, Vater. Ich hätte nie geschwiegen, hätte ich gewusst, dass es so kommen könnte. Es tut mir so leid.«
Silenus nickte, als würde ihn das allenfalls geringfügig enttäuschen. »Na gut. Es ist nicht deine Schuld, Junge. Ich habe nichts getan, um mir dein Vertrauen oder deine Liebe zu verdienen. In diesem Moment ertappe ich mich bei vielen Wünschen, und am meisten wünschte ich, ich hätte dich besser behandelt.« Sein Blick wanderte zu Colette. »Und es tut mir leid, Lettie. Ich wollte dir nie wehtun.«
»Sie war dabei«, sagte Colette. »Sie war die ganze Zeit dabei, und du hast trotzdem zugelassen, dass ich zu dir komme?«
»Ich war schwach«, gab er zu. »Seit vielen Jahren hat mich keine Frau mehr berührt. Du warst nach ihr meine erste Liebe. Es tut mir leid. Es tut mir für euch alle leid. Ich hoffe nur, ihr kommt aus dieser Sache wieder heraus.«
Colette, die sonst, von Enttäuschung oder eisiger Befriedigung abgesehen, kaum eine emotionelle Regung zeigte, wimmerte plötzlich und brach in Tränen aus. Und sogar in diesem Augenblick größter Not war George überrascht, sie weinen zu sehen.
»Na, na«, beschwichtigte Silenus, stellte das Kristallglas ab und streckte die Hand nach ihr aus. Sie reckte ihm ihre Hand entgegen, doch ehe sie einander berühren konnten, räusperte sich der Seneschall verärgert.
»Wollt Ihr es einem Mann verwehren, eine trauernde Frau zu trösten, Ofelia?«, fragte Silenus.
»Das artet langsam ziemlich aus«, sagte die Dame gereizt. Sie schwankte ein wenig und sagte: »Du darfst ihre Hand küssen, aber weiter nichts.«
Silenus nickte und beugte sich vor. Ehe er ihre Hand küsste, atmete er tief ein, nahm ihren Geruch in sich auf und sah mit Augen, die so verliebt wie stolz blickten, zu ihr auf. »Du hast mir inmitten von kriegerischen Lebensabschnitten Ruhe geschenkt. Wenn irgendetwas von Bedeutung ist, dann ist es das.« Seine Lippen berührten kaum ihre Haut, als er einen ihrer Fingerknöchel küsste und sich wieder aufrichtete. Er nahm die Weinflasche in die Hand, die mit Zeigefinger und Daumen den Korken hielt, und umfasste den Hals mit den übrigen drei Fingern. Mit der anderen Hand ergriff er das Kristallglas. Kurz bevor er sich einschenkte, blickte er zu Stanley hinauf. »Du weißt, was zu tun ist, nicht wahr?«
Wenn Stanley es wusste, so ließ er sich nichts anmerken. Seine Finger gruben sich in Georges Schulter, doch George fühlte weiter nichts als eine Art Anteilnahme unter Gleichen: Sie würden ihren Anführer verlieren, ihren Vater, wie widersprüchlich und unberechenbar er auch sein mochte.
»Ja«, sagte Silenus zu Stanley. »Du weißt, was zu tun ist. Ich wünschte, ich hätte auf dich gehört, weißt du. Du hattest recht.« Er blickte auf und um sich herum, kostete die nächtliche Brise und lächelte schwach. »Das Leben hat so viel mehr zu bieten.«
Stanley nickte und senkte den Kopf.
Silenus schenkte Wein ein. »Ah«, machte er. »Schon der bloße Geruch ist beinahe genug für mich.« Und während er Wein in das Glas goss, hätte George schwören können, er hätte noch etwas anderes in das Glas fallen sehen, doch das kam nicht aus der Flasche, es stammte von dem Korken und sah aus wie ein einziger Tropfen eines sehr dünnflüssigen Sirups, doch es verschwand hinter Silenus’ Hand beinahe völlig aus seinem Sichtfeld. George erschrak, als er es sah, und als er Silenus anblickte, erkannte er, dass der ihn durchdringend anstarrte. Dann erhob sein Vater das Glas Wein zum Himmel, sagte »Salut« und trank.
Wieder erwartete George, dass etwas geschehen würde. Er hatte etwas in den Wein getan, also hatte er doch zweifellos irgendeinen Plan … aber George sah keinerlei
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