Silenus: Thriller (German Edition)
George.
»Euch helfen, natürlich.«
Beide starrten ihn an. »Warum sollten Sie uns helfen wollen?«, fragte George.
Der Wolf schaute sie bekümmert an. »Ach, na ja … Ich habe in jüngster Zeit ein paar Entscheidungen treffen müssen, wisst ihr, und ich glaube … ich glaube, auch wenn das Sein bisweilen schmerzhaft und äußerst verwirrend ist, möchte ich, dass es … bleibt. Ja. Ich möchte, dass die Dinge bleiben. Auch wenn meine Brüder das Gegenteil wünschen, ich stimme nicht mit ihnen überein. Ich mag euer Licht . Ich möchte, dass ihr es hütet. Und ich möchte, dass ihr am Leben bleibt.« Der Wolf lächelte beiden freundlich zu und schien Colette dabei zum ersten Mal wahrzunehmen. »Ach du liebes bisschen, wer ist denn das? Halt! Ich weiß es! Ist das das Mädchen, in das du so verliebt bist?«
Trotz ihrer gefährlichen Lage errötete George. »Was haben Sie vor?«
Der Wolf schaute ernst drein, dann kummervoll. Er holte tief Luft und sagte: »Was ich vorhabe, ist … euch ein Geschenk zu machen.« Dann klappte er den Mund auf, unfassbar weit, weit genug, dass sein Schlund viel größer war als sein Schädel, und er griff hinein und steckte eine Hand in seinen Hals.
Colette und George fuhren bei dem Anblick regelrecht zusammen. Dann aber sahen sie im Mund des Wolfs etwas glitzern. Es sah aus wie ein glänzender Köder im Maul eines Fisches. Der Wolf packte es und zog es sacht heraus, und als er das tat, schrumpfte sein Mund wieder zu seiner normalen Größe zusammen.
George fühlte, wie sich jedes Haar an seinem Körper dem Juwel aus Licht in den Fingern des Wolfs entgegenreckte. Er hörte einen sehr leisen Singsang, der nicht in der Grube erklang, sondern in seinem Geist …
»Ist das …?«, setzte Colette zu fragen an.
»Es ist euer Licht «, sagte der Wolf in Rot und starrte den funkelnden Diamanten aus fürchterlich traurigen Augen an. »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal an etwas so Wunderbarem und so Schrecklichem, etwas so Schönem und so Beängstigendem teilhaben würde. Aber es gehört nicht mir. Ich habe es gern gehabt, aber es gehört nicht mir.« Er hielt es George hin. »Hier.«
George starrte es an. »Was?«
»Nimm es. Es gehört dir.«
Er wusste nicht einmal, ob er das konnte. Er hatte nur einmal ein Stück der Weise genommen, damals, als er ein Kind gewesen war, und er konnte sich kaum daran erinnern. »Ich weiß nicht, ob das die richtige Methode ist …«
»Um Gottes willen, George«, fuhr ihn Colette an. »Wir haben keine Zeit, uns Sorgen über die Vorgehensweise zu machen.«
»In Ordnung«, sagte er. »Schön.« Er streckte die Hand aus, und als er das tat, fühlte er einen schmerzhaften, magnetischen Sog, einen, der nur einen kleinen Bruchteil dessen ausmachte, was er empfunden hatte, als er das erste Stück der Weise an sich gebracht hatte, der aber dennoch schmerzte.
Seine Finger berührten das kleine Juwel aus Licht. Ein zarter Blitz flammte auf, und sein Körper wand sich in Krämpfen. Es war, als wäre ein Blitzschlag in seinen Finger eingedrungen und hätte sich in seinen Geist gebohrt, und er sah …
… einen verregneten Nachmittag und das Meer und einen Haufen Steine. Das kleine Mädchen trägt einen Arm in einer Schiene, aber es stapelt dennoch zielstrebig mit der anderen Hand einen Stein auf den anderen und baut seinen Turm. Es wird ein guter Turm werden, ein großer Turm, und nichts wird ihn je umwerfen können, nicht einmal ihre Brüder. Jeder wird diesen Turm bewundern …
Dann war es vorbei, und er keuchte schwer. George sah, dass seine Hände zitterten, und er fühlte sich plötzlich viel schwerer, so, als würde ein Bleigewicht in seinem Geist herumrollen. Ihm wurde bewusst, dass er gerade etwa sieben Sekunden Dasein aus einem winzigen Punkt der Schöpfung absorbiert hatte, ein winziges Stück Strand, das einmal an einem verregneten Nachmittag den Gastgeber für ein zielstrebiges kleines Mädchen gespielt hatte …
»Hast du es gesehen?«, fragte der Wolf in Rot. »Hast du das kleine Menschlein gesehen, das den Turm am Strand baut?«
George nickte schwer atmend.
Der Wolf in Rot lächelte, sah aber nicht mehr ganz so menschlich aus. Seine Züge waren steifer, und da war eine Leere in seinen Augen, doch er sagte: »Ich habe mich immer gefragt, wer dieses kleine Wesen ist und was aus ihm geworden ist. Ich nehme an, ich werde es nie erfahren. Ich weiß nicht, was du damit anfangen wirst, aber ich bitte dich, hüte dieses kleine Stück
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