Silicon Jungle
Chaos verstreut waren. »Ich habe gerade erst einen Lehrstuhl bekommen. Gönnen Sie mir altem Mann die Freude.« Er fühlte sich tatsächlich alt, sehr alt, in Gegenwart der fünf Kollegen, die da vor ihm saßen.
Bevor einer der anderen antworten konnte, sagte der Anwerber: »Professor Asad, wir würden Sie niemals bitten, Ihre Stellung hier aufzugeben. Behalten Sie Ihre Professur in Berkeley, so lange Sie wollen, und arbeiten Sie einfach eine Weile in Teilzeit mit uns zusammen, um zu sehen, ob es passt.«
Einer der fünf, der ein zerknittertes altes Berkeley- T -Shirt trug, hörte auf, wie wild auf dem mitgebrachten Laptop herumzutippen, und warf nervös ein: »Professor Asad, wir haben mit genau denselben Problemen zu tun, die Sie in Ihren Forschungsprojekten untersucht und in Dutzenden Publikationen erläutert haben. Wir bieten ihnen die Chance, auf die Sie gewartet haben. Es geht nicht bloß um Spekulationen und Theorien. Es ist real. Es ist greifbar. Wir leben, atmen und schwimmen jeden Tag in Daten. Mehr Daten, als Sie es sich vorstellen können.« Er hielt einen Moment inne und ließ die Augen über die vollgestopften Regale ringsum wandern.
Als er weitersprach, richtete er den Blick wieder entschlossen auf Atiq. »Ich weiß, dass Sie unsere Suchmaschine mindestens ein Dutzend Mal pro Tag benutzen. Und Sie verschicken mit unserem E-Mail-Dienst ständig persönliche Nachrichten. Um genau zu sein, das letzte Mal vor weniger als fünfundvierzig Minuten zu Hause, kurz bevor Sie hierhergefahren sind, richtig? Ich weiß, Sie nutzen unseren Instant Messenger zum Chatten mit Ihren Kindern, und zwar auf deren Drängen hin, wie ich wetten würde. In Anbetracht der vielen Überstunden, die Sie machen, unterhalten Sie sich wahrscheinlich häufiger über den Instant Messenger mit ihnen als persönlich. Und letzte Woche haben Sie viermal unsere Kreditkarte benutzt. Diese Woche erst einmal, gestern … Und das habe ich in den paar Minuten herausgefunden, in denen Sie sich unterhalten haben. Stellen Sie sich einmal vor, was Sie mit diesen Informationen über alle unsere User anstellen könnten.«
Der Anwerber trat einen Schritt vor und legte vorsichtig ein dickes verschlossenes Kuvert auf Atiqs Schreibtisch. Darauf standen neben dem allgegenwärtigen Ubatoo-Logo nur sein Name und die Worte: »Willkommen an Bord.« Der Anwerber ließ die Augen von dem Kuvert zu Atiq wandern und sagte leise: »Ich denke, wir haben genug gesagt.«
Keiner rührte sich – alle warteten auf Atiqs Antwort. Er nickte mehrmals kaum merklich mit dem Kopf, während er die fünf Wissenschaftler betrachtete, diese jungen Bürschlein, die da vor ihm saßen. Er dachte über die Größenordnung dessen nach, auf das sie gestoßen waren, fragte sich, ob sie wohl verstanden, was sie da besaßen oder ob sie überhaupt wussten, was sie damit anfangen sollten oder konnten. Dann betrachtete auch er die Bücherstapel und verstaubten Auszeichnungen, die ihn umgaben. »Sie scheinen mich ziemlich gut zu kennen«, sagte er und streckte eine Hand nach dem Kuvert aus. »Sagen Sie, haben Sie denn auch schon herausgefunden, wie Sie aus Ihren vielen Daten ablesen können, was ich jetzt tun werde?«, fragte er mit einem Lächeln und strich eine zerknitterte Ecke des wartenden Kuverts glatt.
Der Anwerber versuchte dazwischenzufahren, ehe einer von ihnen wieder das Wort ergriff. Doch zwei von den fünf antworteten unisono, als hätten sie diese Vorstellung haargenau einstudiert, um die Pointe gekonnt rüberzubringen: »Noch nicht. Dafür brauchen wir ja Sie .«
September 2008.
Als Atiq das Ubatoo-Gebäude in Palo Alto, dem Herzen des Silicon Valley, im Jahr 2002 zum ersten Mal betreten hatte, hatte es schon damals auf ihn genauso überwältigend gewirkt, wie auf heutige Besucher. Er hatte sofort die Energie in den Büros wahrgenommen, die dynamischen, angeregten Diskussionen vor den Whiteboards, die mit mehr Gleichungen und griechischen Symbolen als Wörtern vollgekritzelt waren, und das furiose Klicken von Tastaturen, das nur durch rasche, aufgeregte Wortwechsel unterbrochen wurde. Doch was er vor allem spürte – so deutlich, als könnte er es sehen –, war die rohe, geballte Intelligenz, die hier am Werk war.
Sechs Jahre später war Atiq Vice President bei Ubatoo, das auf zwölftausend Mitarbeiter angewachsen war. Er hatte zwar noch immer seine Professur in Berkeley inne, doch den größten Teil seiner Zeit verbrachte er auf dem weitläufigen Gelände
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