Silicon Jungle
»Stell dir vor, du lebst in einer Welt, in der du keinen Zugang zu allen Büchern hast oder nur einen einzigen Fernsehsender gucken kannst. Und ganz plötzlich kriegst du eine Internetverbindung, vielleicht auch nur für ein paar Stunden die Woche. Aber in diesen paar Stunden kannst du sehen, was da draußen alles los ist. Du siehst neue Ideen, Religionen, politische Anschauungen, Orte, an denen du noch nie warst. Mit einem Mal bist du mit der Welt verbunden. Wie könntest du je wieder darauf verzichten wollen? Überleg doch mal, wie unglaublich das die Leute verändern wird, wenn sie von dieser anderen Welt da draußen erfahren. Klingt doch gut, oder? Jetzt stell dir stattdessen vor, du würdest immer bloß Hetzbeiträge in irgendeinem Diskussionsforum lesen – oder noch schlimmer – immer bloß fanatische Aufrufe zur Gewalt oder Gott weiß was für extremistische Ansichten.«
Sie stockte, um Stephens Gesicht nach einer Reaktion abzusuchen, ehe sie fortfuhr. »Wir müssen unbedingt verstehen, wie die Leute durch diese Art von Propaganda im Netz beeinflusst werden. Wir sehen die Notwendigkeit, das zu verstehen, ohne weiteres ein, wenn es um ein entlegenes Dorf geht oder um irgendein Extremistencamp weit weg, wo wir es nicht sehen können, richtig? Aber stell dir das mal hier bei uns vor, in den USA . Was würde passieren, wenn Leute, die das Internet benutzen, tagaus, tagein auf nichts anderes als Hetzbeiträge und Hetzdiskussionsgruppen stoßen? Davon gibt es nämlich mehr als genug. Was denkst du, wie sich das auf die auswirken würde?«
Stephen überging die Frage. Er war ziemlich sicher, dass sie rhetorisch gemeint war. »Ich weiß. Ich hab’s kapiert. Du willst den Einfluss der Internetpropaganda in Ländern messen, die gerade erst Internetzugang kriegen. Und das ist wichtig, weil …«
Ehe er zu Ende sprechen konnte, riss Molly das Wort wieder an sich. In den nächsten paar Stunden ging es um Politik, Religion, Technologie und dann das Ganze wieder von vorn. Molly hatte offensichtlich einen Sparringpartner gesucht, und Stephen spielte ihn gern für sie.
Die unzähligen Dokumentarsendungen von PBS und National Geographic (vor allem die über den Massai-Stamm in Kenia), die sie anstelle von Sitcoms gucken musste, waren der Grund dafür, warum Molly sich schon so lange sie denken konnte, in den Kopf gesetzt hatte, irgendetwas Gutes für die Welt zu tun. Daher auch das Friedenskorps.
Als ihr Einsatz dort ein vorzeitiges Ende fand, gab sie den Entschluss, die Welt zu verbessern, nicht auf, obgleich sie dieses Ziel wohl nur über größere Umwege erreichen würde. Dennoch, sie wollte sich auf gar keinen Fall irgendeine lahme Rechtfertigung dafür zurechtlegen, dass auch ein »normaler« Job der Welt zugute kam. Nein, ihr Engagement musste zum Ausgleich dafür, dass sie nicht vor Ort in den armen Dörfern war, umso größer und kontinuierlicher ausfallen. Molly wollte Menschen wie Sandrine dabei helfen, den Lebensumständen zu entkommen, die ihnen keinerlei Perspektive boten, und ihnen die Hoffnung auf Perspektiven anderswo geben.
Mollys ursprüngliches Vorhaben, die Migration in Afrika aus anthropologischer Perspektive zu untersuchen, galt an ihrer Fakultät an der Brown University als eine radikale Abkehr von der Norm. Das Thema war wesentlich pragmatischer angelegt als die Forschungsschwerpunkte ihrer Kommilitonen, die sich mit den Sitten und sozialen Strukturen eines längst ausgestorbenen Stammes oder einer untergegangenen Zivilisation beschäftigten, um dann zu der unvermeidlichen Schlussfolgerung zu kommen, dass der betreffende Stamm für die Entstehung unserer modernen Kultur kolossal wichtig war.
Molly und ihre Doktormutter, Gale Mitchell, konnten sich nicht darauf einigen, wie pragmatisch pragmatisch sein sollte. Ihr glühender Idealismus war ja gut und schön. Es stand ihr absolut frei, jedes Thema zu wählen, das ihr am Herzen lag, aber wenn sie für ihre Studien vom Fachbereich finanzielle Mittel erwirken wollte, musste sie ihr Thema auch enger an dem ausrichten, was Gale interessierte. Und Gale interessierte all das, womit sie finanzielle Mittel für den Fachbereich lockermachen konnte, und dazu zählte nicht unbedingt das Bestreben, »die Welt zu verbessern«.
Und so wurde das Thema der Dissertation, deren Titel Molly soeben zum achten Mal umformuliert hatte, festgezurrt. Ihre Professorin war zufrieden. Und die Finanzierung war gesichert – Gale hatte irgendeine
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