Silicon Jungle
Gelegenheit. Ich versuche, Sandrine Englisch beizubringen, und sie versucht zu verhindern, dass ich mich blamiere. Vierzehn Jahre alt, mit Kind, und sie bringt mir bei, hier zu überleben … Ich lebe wie unter einem Mikroskop. Alle beobachten mich ständig. Pausenlos. Ich kann nicht einfach nach Hause gehen, um mich zu entspannen. Meine Gastfamilie ist von mir genauso fasziniert wie ich von ihr. Alles, was ich mache, wird beobachtet und weitererzählt. Das ganze Dorf weiß über jeden Schritt von mir Bescheid und anscheinend auch über jeden Gedanken. Ich sollte vielleicht …
Molly hatte an dem Morgen noch mehr schreiben wollen, aber sie musste aufhören, weil der stechende Schmerz unterhalb ihrer Schulter so heftig wurde, dass sie laut aufschrie und sich vor Qualen auf dem dreckigen Boden krümmte.
»Sie sind aus Amerika?«, fragte der Arzt, als er seine Hände von hinten an ihren Hals legte und seine Finger tief in ihre Haut drückte. Er wusste bereits, dass sie aus Amerika kam, alle dort wussten es.
»Ja«, erwiderte Molly. Sag so wenig wie möglich. Jedes Wort mehr würde nur zu weiteren Interaktionen führen, die fehlgedeutet werden konnten.
»Ziehen Sie Hemd aus«, sagte der Arzt. »Für Herz«, schob er als Erklärung nach. Er trat einen Schritt zurück und nickte beifällig, als sie ihr Hemd hochzog, wirkte aber enttäuscht, als sie es nicht ganz auszog.
Der Arzt war ein alter Mann mit kalten Händen, die zitterten, als er ihr das Stethoskop auf die Brust legte. Er lauschte einen langen Moment, beugte sich dann weiter zu ihr vor. Molly konnte seinen Atem dicht an ihrem Körper spüren. Sie blickte auf die kahle Stelle auf seinem Kopf, hoffte, er würde sich bloß einmal trauen, ihr ins Gesicht zu sehen. Er würde verstehen, was ihre Miene besagte, dass sie wusste, was er da tat – und dass sie nicht zulassen würde, dass er noch weiter ging. Aber er hielt den Blick weiter gesenkt.
Sie hätte gar nicht herkommen müssen, dachte sie. Der Schmerz war längst abgeklungen, als sie in der Praxis ankam. Aber Sandrine hatte darauf bestanden, dass sie trotzdem reingehen sollte, um sich untersuchen zu lassen. Der Arzt sei ein guter Mann; er würde sagen können, ob alles in Ordnung war, versprach Sandrine.
Seine Hand glitt tiefer. »Okay«, sagte Molly laut genug, um jedwede Fantasievorstellung zu zerstören, die in seinem Kopf aufkommen mochte.
»Natürlich, natürlich. Alles in Ordnung. Keine Sorge. Kommen Sie morgen wieder, und ich untersuche noch einmal. Vielleicht morgen Sie bringen ein kleines Geschenk?«
Molly zog hastig das Hemd runter, verlegen und wütend zugleich, sagte aber nichts. Wenn sie jetzt irgendetwas Unbeherrschtes von sich gab, würde das ganze Dorf Bescheid wissen, ehe sie zu Hause ankam.
Sie öffnete die Tür zum Wartezimmer, ohne den Arzt noch einmal anzusehen. Das Wartezimmer quoll über vor Menschen, die zu ihm wollten. Zum Glück stand Sandrine direkt an der Tür, bereit, sie nach Hause zu bringen.
»Sandrine, comment ça va? «, rief der Arzt aus seinem Behandlungszimmer, als er sie durch die offene Tür erspähte. »Komm mal wieder vorbei, ich checke dich durch.« Er nickte ihr lächelnd zu. Ehe Sandrine etwas erwidern konnte, packte Molly sie am Ellbogen und zog sie rasch Richtung Ausgang.
»Er ist kein guter Arzt, Sandrine. Versprich mir, dass du dir einen anderen suchst«, flüsterte sie, als sie das Wartezimmer verließen. Sandrine war erst vierzehn. Weiß der Teufel, was er mit ihr anstellen würde.
»Er ist der Papa von Francis, Molly. Er ist ein guter Mann.«
Das war zu viel. Molly ließ Francis und Sandrine am Eingang des Gebäudes stehen. Ehe sie es sich anders überlegen konnte, rauschte sie zurück ins Sprechzimmer, schnappte sich das Erstbeste, das sie mit Händen greifen konnte – eine halb volle schwere Glasflasche –, und schlug damit schwungvoll nach dem Arzt. Die Frau auf dem Untersuchungstisch schrie auf, das Gesicht des Arztes blutete, weil sich ihm zwei Zähne durch die Wange gebohrt hatten, und alle im Wartezimmer strömten herein, um zu sehen, was passiert war.
Sieben Monate Bewerbungen, drei Monate Ausbildung und zweiundvierzig Tage in Kamerun. Sie wurde noch vor Ende der Woche nach Hause geschickt, weil sie nach Meinung des Dorfes und des Friedenskorps »ein zu ungestümes Temperament« hatte.
KUSCHELMOLLY
Februar 2009.
»Wieso noch mal brauchst du einen neuen Computer, Molly?«, fragte Trisha, als sie in der Elektronikabteilung
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