Silicon Jungle
ab.
KLEINE HÄUSER IN PINK
12. Juli 2009.
Yuri war ein Rockstar. Anders ließ sich sein kometenhafter Aufstieg im Ansehen der Praktikanten, nur fünf Tage nachdem er sein Demo das erste Mal vorgeführt hatte, nicht beschreiben. Die Nachricht, wie er die Echt-Zeit-Aktivitäten von Ubatoo-Usern mit den verblüffend hochauflösenden Bildern von deren Häusern und Wohnungen verknüpft hatte, breitete sich aus wie ein Lauffeuer. Praktikanten schwärmten in – soweit ihre wenig ausgeprägten literarischen Neigungen das zuließen – lyrischen Tönen von der Schönheit dessen, was Yuri da gelungen war, und ergingen sich in philosophischen Diskursen über die abwegigen und abartigen Möglichkeiten, die die Zukunft bereithielt.
Es war ein beliebter Zeitvertreib für Praktikanten geworden, sich mit Hilfe von Yuris System gegenseitig auszuspionieren. Peinlichkeiten wurden im wahrsten Sinne des Wortes vergrößert, indem die Entdeckungen auf eine der vielen LCD -Wände übertragen wurden, die in allen Ubatoo-Gebäuden hingen und für simultane Präsentationen miteinander vernetzt waren.
Sein erstes Computerprogramm schrieb Yuri zu Beginn seines Informatikstudiums im heimischen Kiew, ohne je Zugang zu einem noch so einfachen Rechner gehabt zu haben. Er schrieb seine Programme auf einem Blatt Papier und reichte sie bei seinen Lehrern ein. Gerade dieser Mangel an Mitteln machte seine Systeme kompakt, leicht verständlich und leicht erweiterbar, also im Informatiker-Jargon »elegant«. Als Yuri zu Ubatoo kam, hatte er zwölf Jahre Informatik studiert, die letzten bereits in den USA , und war auf dem besten Weg, einer der vielen ausländischen Wissenschaftler zu werden, die hier ihre Träume realisierten und schließlich sogar zu erstaunlichem Erfolg gelangten. Das Einzige, was ihn daran hinderte, war seine stille Art.
Hätte er seinem Betreuer von dem Projekt erzählt, wäre er mit Lob überschüttet worden für seine Computer-Vision-Arbeit, für die Nutzung der Bild- und Satellitendaten, die das Herzstück des Demos bildeten, ebenso wie für die Nutzung von Daten einer Gruppe, die normalerweise nur wenig mit dem Computer-Vision-Projekt zu tun hatte. Obendrein hätte er sogar bei den pedantischsten Technikern von Ubatoo Anerkennung für die Eleganz des Programmdesigns geerntet.
Da ihm aber nichts daran lag, bei Ubatoo zum Star zu werden, konnte er das Projekt ohne die üblichen Belastungen durch firmeninterne Klüngeleien und Ruhmessucht mit rasantem Tempo voranbringen. Jeden Abend, wenn das System auf die überlebensgroßen LCD -Wände projiziert wurde, guckten sich mehr und mehr Praktikanten die Show an. Selbst die Zynischsten unter ihnen taten sich schwer, nicht doch ein wenig ehrfürchtig zu werden angesichts der reinen Schönheit der hochauflösenden Bilder, wenn sie virtuell durch ihre jeweiligen Wohnviertel spazierten oder über sie hinwegflogen und sich mit voyeuristischem Interesse die aufleuchtenden Häuser ansahen. Die Weiterentwicklung des Projekts erfolgte de facto mit freiwilliger Hilfe zahlreicher anderer Praktikanten unter Yuris Leitung.
Hier wurde deutlich, dass es bei Ubatoo genug Leute gab, die effektiv von der Wahrheit abgeschirmt wurden, für ein rein gewinnorientiertes Unternehmen zu arbeiten und sich nicht auf einem reinen Technologiespielplatz zu tummeln. Daher wurde der lukrativste Forschungsaspekt, die grünen Häuser, die anzeigten, dass kürzlich bei einem von Ubatoos Kunden Geld ausgegeben worden war oder gerade ausgegeben wurde, schlichtweg ignoriert. Die einzige Farbe, die stattdessen Aufmerksamkeit erregte, war die, die den meisten Spaß verhieß – Pink.
Irgendwann mitten in der Nacht des fünften Tages nach Bekanntmachung des Projekts dachten sich fünf Praktikanten, die an der Sache arbeiteten – Yuri, Stephen, Kohan, Andrew (ein Praktikant aus der E -Mail-Gruppe, der letztes Jahr bereits in der Suchmaschinen-Ranking-Gruppe gearbeitet hatte) und Rob (ein Praktikant aus der User-Interface-Gruppe) –, einen Namen dafür aus: Es sollte JENNY heißen.
Die Geschichte, wie es zu dem Namen JENNY kam, beginnt ungefähr so wie jede Geschichte, ob Shakespeare-Drama oder moderner Liebesroman – ein betrogener Liebhaber sinnt auf Rache, und während er sich irgendwelche komplizierten Vergeltungsmaßnahmen überlegt, erfährt er von all den Geschehnissen, von denen er bisher nichts gewusst hatte.
Als Rob das Demo zum ersten Mal sah, waren vier andere Praktikanten mit
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