Silicon Jungle
Ereignisse, Profile, Diskussionsgruppen –, die Ubatoo trackte und die von staatlichen Behörden als »interessant« eingestuft wurden. Aus dieser Saat, diesen Daten konnte er algorithmisch einen ganzen Satz Profile und Individuen »ziehen«, die Gefahr liefen, ebenfalls als »interessant« gekennzeichnet zu werden.
Zum Glück hatte seine bisherige Arbeit für die ACCL die notwendigen Daten bereits geliefert. Mit Hilfe der Bücherliste hatte er die Personen gefunden, die sie gelesen hatten. Mit Hilfe der Personen, die die Bücher gelesen hatten, hatte er die Websites gefunden, die sie frequentierten, und mittels dieser ein vollständiges Profil erstellt: Lucy. Und Lucy führte ihn zu der Liste, die er Sebastin gegeben hatte. Alles war miteinander verbunden.
Es gab nur ein Problem, das im Bereich Statistik und in der Fachliteratur über künstliche Intelligenz wohlbekannt war, ein Phänomen, mit dem sich Universitäten weltweit seit Jahrzehnten befassten: Extrapolation. Einfach ausgedrückt versteht man unter Extrapolation die Prognose von Ergebnissen auf der Grundlage bereits erworbener Daten. Nehmen wir das Beispiel mit dem Huhn. Wenn man ein Huhn am Straßenrand sieht, könnte man annehmen, dass es auf die andere Seite will, zumindest wenn fast jedes Huhn, das man je am Straßenrand gesehen hat, die Straße überqueren wollte. Es ist lediglich eine Mutmaßung, eine Hypothese, und man kann nicht sicher sein, weil man mit diesem speziellen Huhn keine Erfahrung gemacht hat, nur mit anderen, die man instinktiv als ähnlich einstuft.
Auf Menschen angewandt, geht Extrapolation mit Begriffen einher wie »Stereotypisierung« und »rassistische Vorverurteilung«. Im Grunde aber basierten darauf alle bei Ubatoo durchgeführten Analysen – ungeachtet des jeweiligen Anwendungsbereichs: Werbung und zielorientierte Internet-Suchen, Video- und Website-Empfehlungen, E-Mail-Verwaltung und die Ermittlung der Menschen, die jemand vielleicht gern in sein soziales Netzwerk aufnehmen würde. Es wurden laufend Analysen durchgeführt, immer und immer wieder, wobei alle neu zugänglichen Informationen sofort integriert wurden. Ziel war es, die Lücken in deinem persönlichen Profil durch das Aufspüren von Leuten zu füllen, die dir ähnlich waren.
Stephen besaß ja schon eine Liste mit fünftausend Personen, die Aussicht hatten, auf Watch Lists zu landen. Nun füllte er minutiös die Profile dieser fünftausend mit jeder einzelnen Information, die er über sie finden konnte: wonach sie im Internet suchten, um welche Tageszeit sie suchten, was sie kauften, welche Foren sie lasen, wer ihre Freunde waren und wann sie sie anriefen, was sie in ihre Kalender eintrugen, was für Dateien sie gespeichert hatten, wie alt sie waren und sogar den Inhalt ihrer Mails. Er kannte diese Leute.
Doch wie übertrug man die Erkenntnisse über diese fünftausend auf die zweihundert Millionen Menschen, die in den USA das Internet nutzten? Erstens galt die simple Wahrheit, »Niemand ist eine Insel« – alles und jeder wurde durch seine Beziehungen definiert. Zweitens musste die Redensart vom »kleinen Rädchen im Getriebe« aktualisiert werden. Zwischen allen Menschen besteht ein Netz aus gemeinsamen Interessen, gemeinsamen Freunden, gemeinsamen Eigenschaften, gemeinsamen Mustern. Eine Person wird folglich definiert über ihre Position in diesem Netz, genauer gesagt, diesem Graphen.
Stell dir vor, du bist ein kleiner schwarzer Fleck auf einem riesigen leeren Bogen weißen Papiers. Deine Mutter ist ein weiterer kleiner Punkt, dicht neben dir. Du rufst sie an. Daraufhin entsteht zwischen dir und ihr eine dünne Linie. Als Nächstes schickst du ihr ein Foto als E -Mail-Anhang – die Linie wird ein bisschen dicker. Du kaufst für sie online ein Geschenk und lässt es ihr zuschicken – die Linie wird noch dicker. Sie ruft deine Tante Theresa, ein weiterer kleiner schwarzer Punkt auf dem Papier, in Florida an. Eine dünne Linie entsteht zwischen den beiden. Theresas Sohn Antonio studiert ein Semester in Spanien. Er schickt seiner Mutter eine E -Mail, worin er sich dafür entschuldigt, so selten zu schreiben. Zwischen Antonio und Theresa entsteht eine weitere Linie. Antonio chattet über einen Instant Messenger mit seiner Freundin Sarah an der University of Maryland – jede Minute, die sie zusammen online sind, wird die Linie zwischen ihnen dicker. Sarah erzählt ihm, dass Amber, ihre Zwillingsschwester (zwischen Amber und Sarah erscheint eine kräftige
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